Warum man heute beim Prozess über die Verfassungsfeindlichkeit der AfD hundert Jahre zurückdenken sollte – an das Strafverfahren gegen den Putschisten Adolf Hitler.

Von Heribert Prantl

Der Prozess vor dem Oberverwaltungsgericht Münster zieht und zieht sich. Es geht dort darum, ob und wie verfassungsfeindlich die AfD ist. Die AfD klagt und empört sich dagegen, dass sie vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtextremistischer Verdachtsfall eingestuft worden ist. Aber: Es gibt an diesem Verdacht kaum vernünftige Zweifel. Es ist eher so, dass aus dem Verdacht in den vergangenen Monaten Gewissheit geworden ist.

Braunes Konfetti im Gerichtssaal zu Münster

Gleichwohl hat die AfD einen ersten taktischen Erfolg erzielt; sie hat das Gericht so mit Beweisanträgen bombardiert, dass es sich vorerst nicht in der Lage sah, ein Urteil zu sprechen. Das Gericht hat die Verhandlung deswegen vertagt und soeben dreizehn neue Verhandlungstage angesetzt – bis zum 3. Juli. Ein taktischer Erfolg für die AfD ist dies deswegen, weil die Partei jetzt nicht mehr befürchten muss, dass ihr vor der Europawahl am 9. Juni von der dritten Gewalt die Verfassungsgefährlichkeit attestiert wird. Und das Jubiläum zu 75 Jahre Grundgesetz im Mai wird nun von den braunen, juristisch verkleideten AfD-Possen im Gerichtssaal zu Münster begleitet. Die vielen Hundert von der AfD gestellten und angekündigten Befangenheits- und Beweisanträge werden vor die Richterbank geschüttelt werden wie braunes Konfetti. Sie beweisen aber letztlich vor allem eines: wie sehr die AfD das Urteil fürchtet.

Das Gericht sollte es zu verhindern wissen, dass die AfD das Gericht zur Bühne macht, um Demokratie, Rechtsstaat und deren Organe lächerlich zu machen. Ein Gericht muss Befangenheitsanträge ernst nehmen und mit Sorgfalt behandeln. Und es muss Beweisanträgen mit Akkuratesse nachgehen; sie dürfen also nicht einfach mit der Begründung abgelehnt werden, dass sie das Verfahren verzögern. Beweis- und Befangenheitsanträge können nerven; das dürfen sie aber auch; das muss das Gericht, das muss der Rechtsstaat aushalten. Er muss es aber nicht aushalten, dass die AfD den Raum des Rechts in einen Raum ihrer Propaganda verwandelt.

In meiner Bibliothek gibt es eine „Nie wieder“-Ecke. Dort stehen die Bücher zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, dort stehen die großen und kleinen Kommentare zum Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik, dort steht das verdienstvolle Buch des Historikers Norbert Frei über „Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“. Dort steht auch ein Buch aus dem Jahr 1990, das den Titel trägt: „Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-Putsch und die bayerische Justiz.“ Geschrieben hat es der damals 76-jährige Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder. Vom Umfang her ist es eher ein Büchlein. Aber: Es hat mir seinerzeit den Kopf aufgesperrt dafür, wie die bayerische Justiz 1923/24 Hitler den Weg bereitet, wie sie ihn und die Nazis hofiert und wie sie die Putschisten des Marsches zur Münchner Feldherrnhalle vom 9. November 1923 beweihräuchert hat. Die bayerische Justiz hat den Hohn und Spott der Angeklagten gegen die Weimarer Republik erlaubt, sie hat den Verachtungstiraden von Hitler und Co. gegen die Regierung zugelassen. Man liest das und denkt sich: Wehret den Anfängen! Dergleichen darf sich nicht einmal in Spurenelementen wiederholen, nicht in den Strafverfahren gegen die umstürzlerischen Reichsbürger, nicht in den Verfahren, in denen es um die AfD geht.

Vor hundert Jahren: Der Richter feiert den jungen Hitler

Vor genau hundert Jahren, am 1. April 1924 wurde vom Vorsitzenden Richter Georg Neithardt das Urteil gegen Hitler und Co. verkündet, in dem der Richter den „rein vaterländischen Geist und edelsten Willen“ der angeklagten Hochverräter feierte und die Voraussetzung dafür schuf, dass Hitler aus der Haft in der Festung Landsberg alsbald auf Bewährung entlassen wurde. Gritschneder hat in seinem Buch das skandalöse Strafverfahren gegen Hitler und Co. seziert, dem Gericht seine Fehler nachgewiesen und aus damals noch unveröffentlichten Quellen zitiert. Im Jahr 2000 war Gritschneder dann zusammen mit Lothar Gruchmann und Reinhard Weber Mitherausgeber eines vierbändigen Werks, in dem der Hitler-Prozess und die einzelnen Verhandlungstage penibelst protokolliert werden. Es ist dies die Chronik einer Justizfarce. Es ist der Beleg dafür, warum eine wehrhafte Demokratie eine wehrhafte Justiz braucht. Gewiss: 2024 ist nicht 1924. Die Rechtsblindheit der Justiz ist Vergangenheit. Aber es gilt die Mahnung, dass es Radikalen und Extremisten nicht mehr gelingen darf, aus einem Prozess über und gegen sie ein Justiztheater zu machen.

Die Umstürzler von heute

Braune Dankbarkeit: Der mit den Hitler-Putschisten sympathisierende Vorsitzende Richter Georg Neithardt wurde im September 1933 zum Präsidenten des Oberlandesgerichts München ernannt. Anfang September 1937 wurde er mit einer persönlichen Dankesurkunde in den Ruhestand verabschiedet; er starb 1941. Die stattlichen Pensionsbezüge seiner Witwe blieben nach dem Krieg unangetastet. Anders als 1923/24 steht die Richterschaft aber heute mit ganz wenigen Ausnahmen auf dem Boden der demokratischen Grundordnung. Aber immerhin: Umsturzpläne gibt es auch heute. Im Dezember 2022 wurden Heinrich Prinz Reuß und zwei Dutzend weitere Personen wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung und eines geplanten Staatsstreichs verhaftet – unter ihnen die Berliner Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann.

1923, beim Hitler-Putsch, waren zwei hohe Richter des Bayerischen Obersten Landesgerichts unter den Putschisten, einer davon war Theodor von der Pfordten, der beim gescheiterten Putsch durch einen Schuss getötet wurde. In seiner Manteltasche fand man den Entwurf einer Notverfassung, die er zusammen mit Hitler ausgearbeitet hatte und die dann in der geplanten „Nationalen Diktatur“ gelten sollte. Darin vorgesehen war die Auflösung der Parlamente, die Einführung von Standgerichten, die Entlassung aller jüdischen Beamten, die Ausführung von Deportationen.

Deportationen, nämlich die Säuberung Deutschlands von „kulturfremden“ Menschen im Rahmen eines groß angelegten „Remigrationsprojekts“, werden heute von Björn Höcke gefordert; er ist Partei- und Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen. Die Forderung ist nicht in seiner Manteltasche versteckt, sie ist ganz offen publiziert in einem Buch, das er schon 2018 geschrieben hat. Nötig sei, so sagt er, ein „Zuchtmeister“, einer „der den Stall ausmistet“, und zwar mit „wohltemperierter Grausamkeit“. So propagierte es denn auch eine Konferenz von AfD-Leuten und Rechtsextremisten im November 2023 in Potsdam. Der AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer schrieb dazu auf der Plattform X: „Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen.“

Es ist ebenso ungeheuerlich wie verwunderlich, dass eine Demokratie, die sich wehrhaft nennt, gegen neonazistische Politiker wie Höcke und Springer nicht die Möglichkeit nutzt, die der Artikel 18 des Grundgesetzes gibt: Es kann solchen Verfassungsfeinden und Grundrechtsverächtern das aktive und passive Wahlrecht aberkannt werden. Über einen solchen Antrag, den jede Landesregierung stellen kann, müsste das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Es würde sich zeigen, wie wehrhaft der Rechtsstaat heute ist. Wenn die Anträge gegen Höcke und Co. nicht gestellt werden, ist das Demokratie- und Rechtsstaatsgefährdung durch Unterlassen.

 


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