Der 300. Geburtstag des Friedensphilosophen Immanuel Kant wird groß gefeiert. Aber Rufe nach Abrüstung gelten heute als weltfremd und Pazifisten als Narren der Nationen. Wo sind die Mutigen, die Frieden stiften?

Von Heribert Prantl

Kant hat das Wort Pazifismus nicht erfunden. Und die Idee, die dieses Wort verkörpert, ist viel älter als der Philosoph, dessen dreihundertster Geburtstag am Montag gefeiert wird. Aber Kant hat 1795, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, die Idee des ewigen Friedens aus der biblisch religiösen Sprache und Tradition in die Moralphilosophie und das Recht überführt. Er legte einen philosophischen Vertragsentwurf vor, betitelt: Zum ewigen Frieden. In diesem Werk heißt es: Friedensschlüsse dürfen nicht den Grund zum nächsten Krieg liefern; es dürfen keine Kredite aufgenommen werden, um Kriege zu führen; kein Staat soll sich gewalttätig in Verfassung oder Regierung eines anderen einmischen; stehende Heere soll es nicht mehr geben; im Krieg soll sich kein Staat zu Massakern hinreißen lassen, die das Vertrauen zerstören, das für einen künftigen Frieden nötig ist; die Verfassung soll republikanisch sein.

Und: Das alles funktioniert nur mit einem internationalen Rechtssystem – was für eine Weitsicht! Man staunt bei der Lektüre über die Klugheit und Hellsichtigkeit von Kants Überlegungen zu einer stabilen internationalen Friedensordnung.

Der Kanzler will am Montag zum dreihundertsten Geburtstag Kants eine große Rede halten, eine Festrede. Frieden, so hat Kant gesagt, fällt nicht vom Himmel, er liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern muss mit festem Willen, unbeirrbarer Vernunft und politischer Kraft gestiftet und bewahrt werden. Frieden stiften – genau das ist, genau das wäre die Aufgabe heute, Frieden in der Ukraine, Frieden im Nahen Osten. Wer stiftet? Wo sind die Mutigen? Es wäre eine Sensation, wenn Kanzler Scholz in seiner Festrede auf Immanuel Kant Vorschläge dafür hätte. Und ein angemessenes Geburtstagsgeschenk für den Philosophen wäre das auch.

Schwerter zu Pflugscharen, kürzer und genialer geht es kaum

Das Wort Pazifismus – vom lateinischen „pax“ (Frieden) und „facere“ (tun, machen) – war noch nicht erfunden, als Kant über den ewigen Frieden geschrieben hat. Das änderte sich 1845, als der Franzose Jean Baptiste Richard de Radonvilliers es als Begriff in die Welt setzte. Er wollte damit den Gedanken Kants stärken, dass Frieden etwas ist, auf das man nicht wartet, sondern das man machen muss. Pazifismus, sagte er, sei „ein System der Befriedung, des Friedens; alles, was den Frieden zu stiften und zu bewahren bestrebt ist“.

Diese pazifistische Utopie hat ein biblisches Alter. Schwerter zu Pflugscharen! Eingängiger, kürzer und genialer als in diesen drei Worten kann man die Vision vom endgültigen Ende aller Kriege und der Auflösung aller Armeen kaum ausmalen. Die Nationen werden ihre Waffen umbauen zu Werkzeugen, zu Pflügen und Winzermessern. Die Schlachtfelder werden zu Äckern, auf denen Getreide fürs tägliche Brot geerntet wird, sie werden zu Weinbergen, in denen die Trauben für den Wein gelesen werden. Und noch weiter geht das Bild: Wo keine Waffen mehr sind, da haben die Lehrmeister des Krieges auch nichts mehr in der Hand, um das Kriegshandwerk zu lehren. Kriegsuntüchtigkeit wird herrschen. Die internationalen Konflikte werden nicht vorbei sein, klar, aber sie werden nicht auf dem Schlachtfeld gelöst.

Zweieinhalb Jahrtausende alt ist dieser Traum von einer ultimativen Zeitenwende, die die Gezeiten der Gewalt beendet und ein Zeitalter des immerwährenden Friedens bringt. Wie alle pazifistischen Utopien ist er nicht in einem wohligen Wolkenkuckucksheim geträumt worden, sondern inmitten von dreckigen Kriegserfahrungen in einer Welt rivalisierender und sich bekriegender Großmächte, die damals nicht Russland, China, USA hießen, sondern Assyrien, Babylonien, Persien. Aus diesem Erbe speisten sich religiöse Gemeinschaften im Mittelalter und in der Neuzeit, die sich kategorisch der Gewaltfreiheit verpflichteten und kollektiv den Kriegsdienst ablehnten. Die Gemeinschaften des Franziskaner-Ordens, die Waldenser, Hussiten, Hutterer und Mennoniten, später die Quäker in England verweigerten sich auch um den Preis, dafür verfolgt und getötet zu werden, dem Dienst mit der Waffe.

Von Suttner und Remarque schrieben gegen den militaristischen Aberglauben an

Der ewige Friede ist nicht allein Sache der politischen Führer, er muss von unten wachsen und im Bewusstsein der Massen gegründet sein, also popularisiert werden. Darum werben die Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Bertha von Suttner in ihrem Roman „Die Waffen nieder“ (1889) und später dann der Schriftsteller Erich Maria Remarque in seinem Roman „Im Westen nichts Neues“ (1929) mit den Mitteln der Literatur für den Pazifismus. Beide Bücher wurden Bestseller. Sie haben ihren Zeitgenossen den militaristischen Aberglauben, die Halluzinationen von der Erhabenheit des Krieges und den Wahnwitz vom glücklichen Heldentod ausgetrieben.

„Mich friert, ich möchte einen Schnaps trinken“, lässt Remarque seinen Helden Paul Bäumer erzählen und beschreibt den Frontkoller von dessen Kameraden Müller und Kropp: „Müller rupft Gräser aus und kaut daran. Plötzlich wirft der kleine Kropp seine Zigarette weg, trampelt wild darauf herum, sieht sich um, mit einem aufgelösten und verstörten Gesicht, und stammelt: „Verfluchte Scheiße, diese verfluchte Scheiße.“

Bertha von Suttner und Erich Maria Remarque haben die verfluchte Scheiße gerochen; sie haben aufgeklärt darüber, was Krieg bedeutet, wie junge Männer von Geschossen zerfetzt, wie Völker traumatisiert werden, wie Kriegsherren ihren wahnhaften Irrtümern erliegen. Die pazifistische Idee wurde international und milieuübergreifend.

Die Friedensfreunde kommen aus sehr unterschiedlichen Traditionen

Aus einem ganz anderen als dem christlich-europäischen Traditionsstrang kommt eine der ganz großen und prägenden Kräfte des Pazifismus: der indische Rechtsanwalt und Aktivist Gandhi (1869-1948), bekannt unter seinem Ehrennamen Mahatma („große Seele“). Die Wurzeln seines gewaltlosen Widerstands liegen im Hinduismus, im Jainismus, aber auch in der Bergpredigt. „Trinkt tief aus den Quellen der Bergpredigt!“ Diesen Rat, den er christlichen und buddhistischen Jugendlichen gab, nahm er auch für sich selbst an.

Die Friedensfreunde und Anhänger der Gewaltfreiheit kamen also aus sehr unterschiedlichen Ländern und Traditionen; sie begründeten ihre kategorische Ablehnung von Waffengewalt und Krieg bürgerlich oder wissenschaftlich, religiös oder sozialistisch. Sie waren sich überhaupt nicht grün in ihren Ansichten, sie stritten sich auch, aber waren vereint in ihrer Ablehnung von Gewalt und Militarismus und in der Vision: Die Völker sollen nicht mehr lernen Krieg zu führen. Intellektuelle aus ganz Europa haben nach dem Ersten Weltkrieg, der 17 Millionen Menschen um ihr Leben gebracht hat, Manifeste gegen das Kriegshandwerk verfasst. Sie tragen die Unterschriften der ehrenwertesten und bekanntesten Menschen ihrer Zeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die gesellschaftliche und die politische Gesamtstimmung ihren Ausdruck in den Parolen „Nie wieder Krieg!“, „Nie wieder Militär!“ und „Nie wieder Diktatur!“. Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee hatte die einfache und einprägsame Formel einigen Zuspruch, die lautete: „Der Krieg ist verboten“. Mit diesem und in diesem Geist begannen die Arbeiten des Parlamentarischen Rats am Grundgesetz.

Beinahe wäre die Bundesrepublik pazifistisch geworden

Carlo Schmid (SPD), Vorsitzender des Hauptausschusses bei den Grundgesetzberatungen, wollte Deutschland eine friedensstiftende Vorreiterrolle einnehmen lassen. „Krieg ist kein Mittel der Politik“ – das war seine plakative Formulierung, die er gern im Grundgesetz gesehen hätte. Man solle doch im Zeitalter des „Atombombenkrieges“, so hatte er schon bei den Beratungen zu der von ihm geprägten Verfassung von Württemberg-Hohenzollern vom 28. November 1946 gesagt, mit einem bewussten Verzicht Deutschlands auf eine Politik der militärischen Stärke ein „neues gesundes Vorbild“ auch für andere Staaten sein.

Das geschlagene Deutschland habe nun die „unschätzbare Gelegenheit“, aus der Not, „in die man uns gestürzt hat“, eine Tugend zu machen; das werde einen „moralischen Sog auf die übrige Welt“ ausüben; früher oder später könne sich dem keine Nation entziehen – und eine friedfertige Welt werde dann am Ende dieser Entwicklung stehen „Wir wollen unsere Söhne nie mehr in die Kaserne schicken! Und wenn doch einmal irgendwo wieder der Wahnsinn des Krieges ausbrechen sollte, dass unser Land das Schlachtfeld wird – nun, dann wollen wir eben untergehen und dabei wenigstens das Bewusstsein mitnehmen, dass nicht wir das Verbrechen begangen und gefördert haben.“

Und dennoch, trotz solcher Sternstunden: Der Pazifismus hatte und hat es schwer. Den Geistesgrößen wird er als kleine Marotte nachgesehen. Heute nicht einmal mehr das. Heute gelten Pazifisten mehr denn je als die Narren der Nationen. Sie ziehen Gespött auf sich, ihre Rufe nach Abrüstung gelten als weltfremd und geschichtsvergessen, ihre Aktivitäten werden als naive Unterstützung für Autokraten und Diktatoren bespöttelt und beschimpft. Daran haben die Friedensnobelpreise, die seit 1901 verliehen werden, nichts geändert. Kant aber hat dreihundertsten Geburtstag und wird gefeiert.


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