Es gibt Historiker, die viel von Geschichte verstehen, aber keine Geschichte erzählen können. Und es gibt Geschichtenerzähler, die keinen Sinn für Geschichte haben. Doppelbegabungen sind selten, in Deutschland sind sie eine Rarität. Karina Urbach ist eine. Die in Cambridge lebende deutsche Historikerin hatte sich mit Werken unter anderem über „Hitlers heimliche Helfer. Der Adel im Dienst der Macht“ längst einen Namen gemacht, ehe sie sich auch der Literatur zuwandte – genauer gesagt: dem Kriminal- und Spionageroman. Mit ihrem jüngst erschienenen historischen Thriller „Das Haus am Gordon Place“ schreibt sie sich in die erste Reihe deutschsprachiger Kriminalautoren. Sie führt in dem Buch stupende historische Kenntnis und stilistische Souveränität zusammen. Das macht den Roman zu einem guten Buch. Aber ein Drittes kommt hinzu, und das macht es – keine Übertreibung – zu einem Ereignis. Die Briten nennen es „suspence“. Urbach hält die Leser im „Haus am Gordon Place“ stundenlang in Spannung, von der ersten bis zu letzten Seite.


Nichts und niemand entkommt der Geschichte, auch nicht der Historiker Professor Hunt, in dessen Londoner Luxuswohnung sein ermordeter Nachbar gefunden wird. Was hatte der Nachbar in Hunts Wohnung zu suchen, warum ist er ermordet worden, und warum erscheint bei Hunt nicht die Polizei, sondern Emma Spencer vom britischen Auslandsgeheimdienst MI 6, die ihn um seine Mithilfe bittet? Die Fragen, die sich Hunt stellen, bilden den Spannungsboden, von dem aus Karina Urbach die Handlung von London in das Wien der Nachkriegsjahre katapultiert.

Wie Berlin ist damals auch Wien in Sektoren der Siegermächte zerlegt. Es wird nicht nur von Hunger und Elend beherrscht, sondern auch vom heraufziehenden Kalten Krieg, von Ost- und Westagenten und vom wechselseitigen Misstrauen der ehemaligen Alliierten. Der Film „Der dritte Mann“ (1949) hat das Leben Wiens in dieser Zeit authentisch abgebildet. Etliche am Film Beteiligte haben damals für den MI 6 gearbeitet, zuvorderst der Drehbuchautor Graham Greene, auch der Produzent und der Regisseur. Die wahre Geschichte des „Dritten Mann“ macht Urbach zu einem Teil der fiktiven Geschichte, die sie über das Haus am Gordon Place erzählt. Wie sie das macht, das macht sie zu einer fantastischen Autorin. Deutschland hat noch keinen herausragenden Autor von Spionagethrillern hervorgebracht – jetzt endlich aber eine herausragende Spionagethriller-Autorin.

Karina Urbach: Das Haus am Gordon Place. Kriminalroman. Das Buch ist als Paperback bei Limes erschienen, es hat 348 Seiten und kostet 18 Euro.

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