Wer hat vor 50 Jahren Willy Brandt gerettet – war da Franz Josef Strauß beteiligt? Die abenteuerlich plausiblen Spekulationen über das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt.

Von Heribert Prantl

Rainer Candidus Barzel schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. Er war, so sagte er später, wie „vom Blitz getroffen“. Er, der Chef der CDU/CSU-Fraktion, saß verstört und zerstört in der ersten Reihe des Bundestags – als Geschlagener, der sich zu früh seines Sieges sicher gewesen war. Er stand auf wie in Trance, gratulierte dem Sieger, dem Bundeskanzler Willy Brandt, der die von Barzel anberaumte Misstrauensabstimmung völlig überraschend überstanden hatte. Nicht er, Rainer Barzel (CDU), wurde Bundeskanzler, wie es nach den Mehrheitsverhältnissen im Parlament hätte kommen müssen; Willy Brandt, der Protagonist der neuen Ost- und Entspannungspolitik, blieb es.

Der Glänzende

Bis zu diesem Zeitpunkt, kurz vor dem 48. Geburtstag Rainer Barzels, hatte gar nichts auf ein tragisches Schicksal hingedeutet – außer vielleicht der ungewöhnliche zweite Vorname „Candidus“, der auf einen christlichen Märtyrer zurückgeht. Schon sein Vater, Oberstudienrat im Ermland in Ostpreußen, hatte diesen lateinischen Namen getragen, der so viel wie „der Glänzende“ bedeutet. Es war der Name eines Offiziers im alten Rom, den die katholische Kirche als Heiligen verehrt: Er hatte sich den angeordneten Christenverfolgungen widersetzt und wurde daher hingerichtet.

Vom Benjamin zum Fast-Kanzler

Der schier unaufhaltsame Aufstieg des Mannes, der das politische Wunderkind der Adenauer-Zeit gewesen war, ging mit diesem 27. April 1972 zu Ende. Mit 23 Jahren hatte er sein erstes Buch geschrieben („Die geistigen Grundlagen der Parteien“), mit 33 Jahren wurde er, das war 1957, für den Wahlkreis Paderborn in den Bundestag gewählt, mit 38 wurde er Minister für Gesamtdeutsche Fragen und „Benjamin“ im fünften Kabinett Adenauer; mit 40 wurde er CDU/CSU-Fraktionschef. Er war unglaublich ehrgeizig, einfallsreich und wendig, ein hochbegabter Mehrzweckredner im Parlament, er war die Schaltstelle der Politik im Kabinett des glücklosen Bundeskanzlers Ludwig Erhard; zusammen mit Helmut Schmidt von der SPD war er der Manager der Großen Koalition des Kanzlers Kurt Georg Kiesinger. Als Brandt Kanzler wurde und Barzel die Union in die Opposition führen musste, bewahrte er sie davor, noch tiefer ins Loch zu fallen. Im Rückblick fallen einem die Parallelen zu Wolfgang Schäuble auf, der nach der Ära Kohl für die Union eine ähnliche Rolle spielte wie Barzel nach der Ära Adenauer.

Die Grünen nahmen Platz

Mit dem 27. April 1972 endete die Fortune Barzels; und es begann die Fortune des Helmut Kohl. Rainer Barzel aber blieb der Mann, der schon fast Bundeskanzler war – und der, in den Stunden der Melancholie, die mit der Distanz zur Politik immer seltener wurden, den Brief auspackte, den ihm Adenauer 1966 geschrieben hatte (und von dem, sehr viel später, der ehemalige sowjetische Deutschlandspezialist Nikolai Portugalow, damals außenpolitischer Berater des Zentralkomitees der KPDSU, behauptete, er sei eine Fälschung des KGB gewesen): „Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie Bundeskanzler würden.“ Rainer Barzel hat verkraftet, dass er es nicht geworden ist. Keine Spur von Verbitterung sah man in seinen späten Jahren in seinem Gesicht. Er hat es geschafft, gelassen zu werden – eine Gabe, die kurz vor Ende seiner aktiven Zeit, da war er Bundestagspräsident, schon aufgeblitzt war. Da hatte er Helmut Kohl zu vereidigen – der das geworden war, was er hatte werden wollen: Bundeskanzler.

Und er musste als Bundestagspräsident mit den Eskapaden der Grünen umgehen, die neu im Bundestag waren. Barzel glaubte an deren demokratische Läuterung und begann eine Art Lehrprogramm für die grünen Neulinge so: Als die nach Sitzungsbeginn einfach stehen blieben, meinte er: Der Bundestag pflege zwar im Sitzen zu beraten, wenn das Hohe Haus der Rede des Kanzlers Kohl aber stehend „Reverenz erweisen“ wolle, habe „der Präsident nichts dagegen“. Die Grünen nahmen Platz.

Das April-Rätsel

Der 27. April 1972 ist noch immer ein dunkles Rätsel in der bundesrepublikanischen Geschichte. „Wer Willy Brandt damals rettete, ist bis heute nicht eindeutig geklärt“ – so schreibt der frühere Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust in einer großen Welt-am-Sonntag-Besprechung eines neuen Buches des Journalisten Hartmut Palmer über diesen Tag. Das Buch Palmers heißt „Verrat am Rhein“ – und birgt eine Sensation: Zu den abtrünnigen Unionsabgeordneten, die gegen das Misstrauensvotum der Union, damit gegen Barzel und für Brandt und seine Ostpolitik stimmten, soll auch Franz Josef Strauß, der damalige CSU-Chef, gehört haben. Auch die SZ hat dieses Buch bereits besprochen.

Palmer lüftet damit ein Geheimnis, das ihm, wie er sagt, Barzel als angeblich gesicherte Erkenntnis zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 2006 anvertraut habe: Erst habe der CSU-Chef ihn, Barzel, „bedrängt, ihn geradezu genötigt, dass Misstrauensvotum endlich zu wagen, dann habe er ihn ins Messer laufen lassen und sich der Stimme enthalten“. Neben dem CDU-Abgeordneten Julius Steiner und dem CSU-Abgeordneten Leo Wagner (die sich von der Stasi und/oder aus SPD-Kreisen hatten kaufen lassen) sei Strauß der dritte Abtrünnige aus dem Unionslager gewesen. Barzel habe ihm, so Palmer, wörtlich gesagt: „Das meine ich nicht nur, sondern das weiß ich genau. Aber wenn Sie das zu meinen Lebzeiten schreiben, werde ich Sie durch alle Instanzen verklagen.“

Ein Strauß-Komplott?

Ohne den Stimmenkauf und „ohne diesen Landesverrat hätte die deutsche Geschichte einen anderen Verlauf genommen“, hat Barzel einmal, ohne Strauß zu erwähnen, in einem Gespräch mit mir erklärt. Da hatte und hat er zweifellos recht. Hartmut Palmer hat keine Beweise für den von Barzel gegen Strauß geäußerten Verdacht. Palmer, der als politischer Korrespondent erst des Kölner Stadt-Anzeiger, dann der Süddeutschen Zeitung und schließlich des Spiegel als harter und akribischer Rechercheur bekannt war, hat deshalb nun den spektakulären Vorwurf gegen Strauß in einen Roman verpackt, der dokumentarische Züge hat – im Nachwort deckt er Barzel als seinen Gewährsmann auf. Palmers Buch „Verrat am Rhein“ ist im Februar 2022 im Gmeiner-Verlag erschienen, es hat 411 Seiten und kostet 17 Euro.

Eigentlich ist der Vorwurf gegen Strauß bizarr, weil der CSU-Chef der härteste Gegner der Ostpolitik Brandts war, die ja mit dem Misstrauensvotum gerade beendet werden sollte. Handelt es sich um einen Publicity-Gag Palmers? Mit dieser Vermutung würde man dem journalistischen Ethos des Hartmut Palmer nicht gerecht. Palmer selbst erklärt, er habe Barzels Behauptung zunächst für völlig absurd gehalten. Aber je länger er darüber nachgedacht und je mehr Querverbindungen zwischen Strauß, dem Bundesnachrichtendienst und Julius Steiner er gefunden habe, umso plausibler habe er den Vorwurf gefunden. Strauß habe Barzel verargt, dass der die Ostverträge Brandts nicht hart und rundum abgelehnt und sich stattdessen für ein „So nicht“ entschieden habe. Er habe Barzel deshalb für ein Weichei gehalten – der seinem eigenen Lebensziel, Bundeskanzler zu werden, im Wege stand.

Eine missgünstige Bösartigkeit von superdimensionalem Ausmaß

Eine von Barzel behauptete und von Palmer kolportiere Ranküne könnte sich schon einfügen in das voltenreiche politische Leben von Strauß – der trotz seines kommunistenfresserischen Rufs bei einem Besuch in China den chinesischen KP-Chef Mao zu einem mehrstündigen Gespräch traf; das war 1975. Noch vor dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt bei Mao gewesen zu sein, machte Strauß mächtig stolz; er sprach öffentlich davon, dass es ein Erlebnis „in superdimensionalen Ausmaßen“ gewesen sei. Jahre später war es Strauß, der, trotz aller kraftmeierischen Tiraden, die Milliardenkredite der Bundesrepublik an die DDR einfädelte. Und es war auch Strauß, der Ende Dezember 1983 am Steuerknüppel einer Cessna zusammen mit Waigel und Stoiber in einem abenteuerlichen Flug zu Gorbatschow nach Moskau flog. Strauß war, wie man so sagt, für Überraschungen gut. Wenn er am 27. April 1972 gegen Barzel und damit für Brandt und dessen Ost- und Entspannungspolitik gestimmt hätte – das wäre allerdings nicht nur eine Überraschung, sondern eine missgünstige Bösartigkeit von superdimensionalem Ausmaß.

Die Freundschaft mit Helmut Schmidt

Barzel hat seinen Unionskollegen Strauß nie gemocht, Oberbayern aber liebte er – dort lebte er mit zunehmender Begeisterung in seinem letzten Lebensabschnitt. Die Feier seines achtzigsten Geburtstags im Jahr 2004 in München begann er mit einem Dankgottesdienst im spätbarocken Asam-Kirchlein in der Sendlingerstraße. Dass die Geburtstagsrede in der Akademie der Schönen Künste nicht Edmund Stoiber oder Angela Merkel, sondern der alte Sozialdemokrat Helmut Schmidt gehalten hat, überrascht nur den, der die bundesrepublikanische Geschichte nicht kennt: Die Große Koalition Kiesinger/Brandt von 1966 bis 1969 war, so hat das die FAZ einmal geschrieben, in ihrem Kern eine Regierung Barzel/Schmidt. Auf die Frage, wie er, Barzel, das Land regiert hätte, wenn er denn Bundeskanzler geworden wäre, zog er den Hut vor Helmut Schmidt und sagte: „Wie er.“


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