Guten Tag,

es ist ein revolutionäres Urteil. Es ist ein in seiner Klarheit, seiner Wahrheit und seinen Folgen umwälzendes Urteil. Es ist ein Urteil, das Rechts- und Gesellschaftsgeschichte schreibt und das Schicksale entscheidet. Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt nicht nur die Hilfe beim Sterben, es erlaubt ausdrücklich die Hilfe zum Sterben; es erlaubt also die Sterbehilfe, es erlaubt jedwede Beihilfe zum Suizid, auch die bisher verbotene geschäftsmäßige Beihilfe. Es bleibt freilich bei der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen – die dann vorliegt, wenn der Sterbehelfer nicht nur hilft, sondern als Täter den Handlungsablauf dominiert.

Oft denk’ ich an den Tod, den herben,
Und wie am End’ ich’s ausmach’?!
Ganz sanft im Schlafe möcht’ ich sterben –
Und tot sein, wenn ich aufwach’!

Carl Spitzweg, Maler.

Dem Recht auf Sterben zu seinem Recht verhelfen

Das höchste deutsche Gericht gibt dem Menschen ein umfassendes Recht auf einen selbstbestimmten Tod, auf ein selbstbestimmtes Sterben. Und dieses Recht, so sagen die Richter, schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Es ist ein spektakuläres Urteil, das noch jahrelang für Diskussionen sorgen und den Gesetzgeber intensiv beschäftigen wird.

Der Gesetzgeber muss sich jetzt überlegen, wie er dem Recht auf Sterben zu seinem Recht verhilft; er muss sich überlegen, wie künftig der Erwerb eines tödlichen Medikaments möglich ist; wie Ärzte, die Suizidassistenz leisten, nicht mehr mit berufsrechtlichen Sanktionen bedroht werden; wie Sterbehilfevereine, die jetzt ja wieder erlaubt sind, künftig kontrolliert werden, auf dass Sterbehilfe dort nicht zur Quacksalberei wird.

Ein tödlicher Ernst

Beim Lesen des Urteils stockt einem der Atem, weil man den tödlichen Ernst der Sache spürt, weil man ahnt, dass das Urteil gewaltige Auswirkungen haben wird: Es verändert ja den Blick auf das Leben, wenn es nun gleichermaßen ein Recht auf Sterben wie ein Recht auf Leben gibt, wenn also der Tod so richtig und so wichtig ist wie das Leben. Relativiert womöglich das neue, vom Bundesverfassungsgericht postulierte Recht auf einen guten, selbstbestimmten Tod die Absolutheit des Rechts auf Leben? Wird das Recht auf Leben kleiner, weil es ein Recht aufs Sterben, ein Grundrecht auf den Suizid gibt? Indes: Aus dem Recht auf Leben hat sich noch nie eine Pflicht zum Leben ergeben – und schon gar nicht gab es eine Pflicht des Schwerstkranken, noch alle möglichen Eingriffe zu erdulden.

Wider die Übertherapie am Lebensende

Und trotzdem gab es lange Zeit in den Krankenhäusern eine bedenkliche, die Menschen quälende Übertherapie am Lebensende. Dieser Übertherapie samt künstlicher Sondenernährung setzt nun das Recht auf Sterben ein Ende. Es gab in den Kliniken tagtäglich Auseinandersetzungen über das Recht zum Sterben – zwischen Angehörigen, Ärzten und Juristen. Das Sterbendürfen war zu einer juristischen Kunst geworden, am Sterbebett standen Paragrafen und Urteile, die die Selbstbestimmung des Patienten grob missachteten und die Wirksamkeit von Patientenverfügungen einschränkten. Richter verlangten vor dem Abbruch künstlicher Sondenernährung bei Wachkoma-Patienten selbst bei anderslautender Anordnung in der Patientenverfügung die „letzte Sicherheit, dass die Krankheit des Betroffenen einen irreversiblen und tödlichen Verlauf angenommen hat“.

Einige Gerichte haben zwar versucht, die dadurch entstandene Verunsicherung von Patienten, Ärzten, Betreuern und Richtern wieder zu beseitigen – aber richtig gelungen ist das nicht. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte da jetzt Sicherheit geben: Wenn es nun ein Recht zum Sterben gibt, dann ist es auch nicht mehr möglich, einen Patienten gegen seinen Willen künstlich am Leben zu erhalten. Es könnte dies eine der ganz positiven Auswirkungen des Karlsruher Urteils sein.

Selbstbestimmung ist nicht nur im Sterben, sondern auch im Leben wichtig

Autonomie, also Selbstbestimmung – das ist das Wort und der Wert, der sich durch die 115 Seiten des Urteils zieht. Es fällt auf, welche große Rolle im Karlsruher Urteil die Selbstbestimmung im Sterben spielt; das ist gut und richtig so. Die Autonomie im Leben dagegen spielt nicht nur in diesem Urteil, sondern auch ansonsten in der Karlsruher Rechtsprechung eine vergleichsweise kleine Rolle. Was braucht der Mensch, um nicht nur selbstbestimmt sterben, sondern auch selbstbestimmt leben zu können?

Das Recht kann zu einem selbstbestimmten Leben beitragen; die Mittel und die Methoden sind freilich komplexer, als die Erlaubnis zu erteilen, einem kranken oder lebensmüden Menschen ein tödliches Medikament zu verabreichen. Lebenshilfe ist komplizierter, aufwendiger und teurer als Sterbehilfe: Zur Lebenshilfe gehört ein anständiges Mindesteinkommen; eine Rente, von der man leben kann; ein Grundrecht auf Wohnen und ein menschenwürdiges Existenzminimum; ein Grundrecht auf Kommunikation und auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; und, natürlich, ein Recht auf Bildung und Förderung gerade dann, wenn man in prekären Verhältnissen lebt. Der Mensch ist ein soziales Wesen; dies prägt sein Leben, seine Freiheit, seine Selbstbestimmung. Dies macht Recht aufs Leben so anspruchsvoll. Das Recht auf Sterben ist viel einfacher zu realisieren.

Die brutale Nachlässigkeit des Bundesverfassungsgerichts

Es ist ein schwerer Fehler des Karlsruher Urteils, dass es auf diese Diskrepanz nicht eingeht – dass es sich ihr sogar ausdrücklich entzieht. Das wird an einer sehr heiklen Stelle des ansonsten respektablen Urteils deutlich. Da heißt es im Hinblick auf den für verfassungswidrig erklärten Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs, der die geschäftsmäßige Sterbehilfe bestrafte und verbot, und in Achtung der Absichten, die den Gesetzgeber dabei geleitet haben: Der Staat „verfolgt … insoweit ein legitimes Anliegen, als er verhindern will, dass sich der assistierte Suizid in der Gesellschaft als normale Form der Lebensbeendigung durchsetzt“. Und dann fährt das Gericht wie folgt fort: „Er darf einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen.“

Diese Stelle des Urteils ist von brutaler Nachlässigkeit, sie ist von gefährlicher Gleichgültigkeit, sie ist von einer Laxheit im Hinblick auf das Lebensrecht, die ich dem Verfassungsgericht nicht zugetraut hätte: Der Staat „darf“ also einer Entwicklung gegensteuern, die einen gesellschaftlichen oder ökonomischen Druck zum Ableben entwickelt? Nein – er muss einer solchen Entwicklung gegensteuern. Und das Bundesverfassungsgericht muss es auch.

Was der Staat tun muss

Das Recht zum selbstbestimmten Sterben ist nun gesichert. Es gilt auch, das Recht zum selbstbestimmten Leben zu sichern.

Ich wünsche Ihnen kluge, erkenntnisreiche Diskussionen. Fastenzeit heißt nicht, am Gespräch miteinander zu sparen. Mögen Sie eine gute Woche haben!

Ihr

Heribert Prantl,

Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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