Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie macht er frei. Mit diesem „Wir schaffen das“-Satz begann einst die deutsche Demokratie. Gedanken zu Angela Merkels Appell, der jetzt zehn Jahre alt ist.
Von Heribert Prant
„Wir schaffen das.“ Fast jeder weiß, dass dieser Satz von Angela Merkel stammt, dass er sich auf die Flüchtlingspolitik bezieht, dass er jetzt zehn Jahre alt wird – und dass sich das gute Versprechen, das in diesem Satz steckt, nicht erfüllt hat. Merkel hat ihn am 31. August 2015 formuliert, während der Bundespressekonferenz. Wörtlich sagte sie: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Viel weniger bekannt ist, dass so ein ähnliches, etwas anders formuliertes, aber gutes, mutiges und wichtiges Versprechen schon am Beginn der deutschen Demokratie steht. Jacob Grimm hat es am 4. Juli 1848 formuliert. Dieser Jacob Grimm war nicht einfach ein Märchenonkel. Er war ein politischer Kopf – ursprünglich ein konstitutioneller Monarchist, später ein Demokrat mit revolutionären Anwandlungen. „Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich“, schrieb er. In der Frankfurter Paulskirche, der ersten deutschen Nationalversammlung, saß er an herausgehobener Stelle: im Mittelgang ganz vorn, auf einem gesonderten Sitz, unmittelbar gegenüber der Rednertribüne und dem Präsidium. Er machte damals den bekenntnishaften Vorschlag, den künftigen „Grundrechten des deutschen Volkes“ folgenden wunderbar farbigen, kräftigen, poetischen Artikel voranzustellen: „Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei.“
Wir schaffen das: Wer ist „wir“? Und was ist „das“?
Wäre dieser Antrag, weil er der Mehrheit zu radikal war, nicht mit 192 gegen 205 Stimmen verworfen worden und stünde dieser Satz auch heute noch im Grundgesetz – es hätte in der Bundesrepublik keine so klägliche Ausländer- und Flüchtlingspolitik betrieben werden können, wie sie immer wieder betrieben wurde und betrieben wird. Jacob Grimms Versprechen, Jacob Grimms Bekenntnis ist ein Satz von einer Strahlkraft, wie ihn erst hundert Jahre später der Artikel 1 des Grundgesetzes von der Unantastbarkeit der Menschenwürde wieder erreicht. Die persönliche Freiheit des Menschen im Grimm’schen Artikel 1 war das Urgrundrecht, das heute die Menschenwürde in Artikel 1 Grundgesetz ist.
Wir schaffen das: Es war ein Appell an die Menschlichkeit, ein Bekenntnis des Vertrauens in die Integrationskraft der deutschen Gesellschaft. Ein Vorwurf gegen den Appell lautet, er sei zu unbestimmt: Wer sind „wir“? Was ist „das“? Doch gerade in der Unbestimmtheit steckt ja seine Kraft, ebenso wie im unbestimmten Begriff der Menschenwürde. Der Satz verlangt mit seiner bestimmten Unbestimmtheit, das „wir“ und das „das“ zu bestimmen. Und tatsächlich machten sich diejenigen in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft, die es schaffen wollten, unmittelbar an die Arbeit und schafften bis dahin Unvorstellbares.
Wie man bis dahin Unvorstellbares schaffte
Binnen weniger Monate, als die geflüchteten Menschen ins Land kamen, schufen sie Unterkünfte, Know-how, Strukturen, Netzwerke, jede Menge pragmatischer Provisorien und vor allem die Zusammenarbeit von Professionellen und Ehrenamtlichen.
Das ehrenamtliche Engagement der Jahre 2015 und 2016 war eine der größten zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen der Geschichte der Bundesrepublik; viele Hunderttausende ließen sich einbinden, um es zu schaffen. Es gab unzählige Formen von Unterstützung von Willkommenskomitees über selbst organisierte Sprachkurse bis hin zu privater Aufnahme von Geflüchteten. Dieser Einsatz hatte Erfolg. Heute, nach zehn Jahren, sind zwei Drittel der Menschen, die Deutschland aufgenommen hat, in Arbeit.
Das war die eine Antwort auf Merkels Appell. Die andere Antwort machte aus dem Drei-Wort-Satz einen „Vier-Wort-Satz“: Zugegebenermaßen bot er den Skeptikern und Verweigern eine verführerische Vorlage für ihr Mantra „Wir schaffen es nicht“. Auch dieser Satz verlangte nach Bestimmung. Die hatte Alexander Gauland von der AfD schnell parat. „Wir wollen das gar nicht schaffen“, entgegnete er Merkel. Sie solle sich doch ein anderes Volk suchen.
Die bestimmte Unbestimmtheit des Merkel-Appells
„Wir schaffen das“ war Ausdruck einer anständigen und einer viele Menschen ansteckenden humanen Haltung, die aber noch kein Programm war und lange zu keinem Programm führte, auch deswegen nicht, weil die Aufnahme- und Integrationspolitik in Merkels eigener Fraktion sabotiert wurde. Bisweilen konnte man den Eindruck haben, dass von einem Teil der politischen Bürokratie Chaos in Kauf genommen wurde, um Merkels Aufnahmepolitik zu diskreditieren und eine neue Abschreckungspolitik vorzubereiten. Wir schaffen das: Angela Merkel hat zu wenig Politik mit diesem Satz gemacht; aber dieser Satz wurde zeitweise zu einem Funken der Hoffnung für Hunderttausende Flüchtlinge; das hat neue Probleme geschaffen. Merkel hat ihren Satz trotzdem stehen lassen. Das ist Haltung – wie sie so viele Menschen sonst von Politikern fordern. Gewiss: Haltung ersetzt nicht gute Politik. Aber sie ist Voraussetzung dafür.
„Wir schaffen das“: Der kleine Satz war eine Reaktion auf das Entsetzen vom 27. August, als auf der österreichischen Autobahn A 4 bei Pamdorf ein Lkw voller Leichen entdeckt worden war; 71 Tote wurden aus dem Laderaum eines Kühllasters geborgen; Schleuser hatten die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder, darunter ein etwa eineinhalbjähriges Mädchen, in den Lkw gepfercht, um sie so über Ungarn und Slowenien nach Österreich zu bringen. Die Menschen, die wohl aus Syrien stammten, waren erstickt. Der Österreichische Rundfunk berichtete, sie hätten noch versucht, sich zu befreien – der Laderaum sei nach außen hin ausgebeult und teilweise aufgeschlitzt gewesen. „Wir schaffen das“: Das Merkel-Wort war auch eine Reaktion auf das Massensterben im Mittelmeer. Und ihr Satz war vielleicht eine Reaktion auf die pöbelhaften Beleidigungen gegen die damalige Kanzlerin, als sie im sächsischen Heidenau eine Flüchtlingsnotunterkunft besuchte. Ein rechtsextremer Mob hatte Merkel brüllend empfangen: „Du blöde Schlampe“, „Hure“, „Volksverräterin“, „Fotze“.
Friedrich Merz – quo vadis?
Merkel hätte so herzlos daherreden können wie die damalige österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Die hatte zum Leid der Flüchtlinge gesagt: „Ich kann mich doch von weinenden Kinderaugen nicht erpressen lassen.“ Hätte Merkel, ganz auf dieser Linie, nicht „wir schaffen das“ sagen sollen, sondern etwa dies: „Wir müssen die Grenzen schließen, weil wir die Belastung nicht mehr aushalten können. Die Mittel, die wir dabei einsetzen müssen, gefallen uns nicht. Es gibt keine anderen. Deshalb müssen wir diese Bilder gemeinsam aushalten.“ Ich bin froh darüber, dass Merkel so etwas nicht gesagt hat. Ich bin froh, dass sie damals nicht davon geredet hat, dass ein Abschreckungs-Exempel statuiert werden müsse.
Ich will mir auch nicht vorstellen, dass heute der CDU-Kanzler Friedrich Merz so etwas sagt. Ich wünsche mir, dass er den Merkel-Satz „Wir schaffen das“ fortschreibt, ihn ausformuliert und ausbuchstabiert. Ich wünsche mir, dass er dabei zeigt, dass das „C“ im Namen seiner Partei noch eine Bedeutung hat. Ich wünsche mir eine realistische Gestaltung von Migrationspolitik. Ich wünsche mir eine Übersetzung von Jacob Grimms Satz in die Sprache und Politik des 21. Jahrhunderts: Deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie macht er frei.