Vom globalen Gewicht und von der Zukunft Europas in Zeiten des Ukraine-Kriegs: Zwanzig Jahre nach der Osterweiterung sucht die EU ihre Bestimmung und findet sie nicht.
Von Heribert Prantl
Helmut Kohl war, es ist lange her, Europas Berserker und Europas Christophorus. Man erinnert sich daran mit einer gewissen Wehmut. Sein Außenminister Klaus Kinkel von der FDP hat einmal, Jahre nach der Ära Kohl, in der für ihn typischen deftigen Sprache geschildert, wie es in der letzten Phase dieser Ära bei den europäischen Ratssitzungen zuging: Es war wie auf einem Klassentreffen mit Kohl als Klassensprecher und Organisator. Kohl habe, „ohne dass er an der Reihe war, in das Mikrofon geschrien, alle zusammengeschissen; und alle haben auf ihn gehört. Er brüllte ‚Francois‘ – und der Präsident Mitterrand, schon gezeichnet von schwerer Krankheit, zuckte zusammen und nickte. Er hat diese Kerle beherrscht.“ Diese Kerle, die Staatsführer Europas, waren, so Klaus Kinkel, „seine Kerle“. Und Kohl konnte über sein Europa glucksend, bewegt, pathetisch, feierlich, sensibel, stolz und auch unglaublich selbstzufrieden reden. Er war Pfälzer, und er war der Staatsmann Europas.
Kohl ist tot, Kinkel ist tot, und der französische Präsident Emmanuel Macron warnt vor der Sterblichkeit Europas. Macron, der ein begeisterter Europäer ist, verfügt über viele Gaben, jedoch nicht über die europäische Beliebtheit und schon gar nicht über die rustikale Jovialität von Helmut Kohl. Aber im Europa von heute, im Europa der 27 Staaten, würde eine solche Rustikalität wohl auch nicht mehr funktionieren.
Abnabelung von den USA
Der französische Präsident Macron sucht mit elitärer Leidenschaft nach dem alten europäischen Geist, wie Kohl ihn verkörpert hat. Macrons Reden zu Europa haben nicht nur Glut, sie haben Feuer; sie haben das Feuer, das man bei Olaf Scholz vermisst. Macron plädiert für ein strategisches Eigengewicht Europas, er wirbt für mehr Selbständigkeit gegenüber den USA, er verficht eine Art Abnabelung von der westlichen Führungsmacht. Macrons Werben für gemeinsame europäische Militärprojekte erinnert an die Anfänge der EU, als die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit einer gemeinsamen Armee auf der Agenda stand. Über Macrons Visionen kann man streiten; aber er hat wenigstens welche.
Helmut Kohl, Bundeskanzler bis 1998, hat 1999 in einem mehrseitigen Interview in der Süddeutschen Zeitung den europäischen Geist beschworen und beschrieben. Schon die Überschrift über diesem europapolitischen Testament macht heute klar, welche Chancen seit damals verpasst und vergeudet wurden. „Europa vor dem Ziel“ heißt es da. Und dann, man möchte weinen, wenn man das liest: „Noch nie gab es so viel Grund zum Optimismus wie heute.“
Es war dies, vor 25 Jahren, die Zeit, in der Helmut Kohl zwar nicht mehr Kanzler war, aber in seinem Geist die Verhandlungen über die Osterweiterung der Europäischen Union begannen; sie waren der Grund für seinen damaligen jubelnden Optimismus. Der Altkanzler war zwar nicht mehr ein Steuermann dieses Erweiterungsprozesses – aber es war ein Prozess nach Kohls Willen und Vorstellung.
Der Rhein, die Donau, die Zukunft
Vor genau zwanzig Jahren, am 1. Mai 2004, kam dieser Prozess zu seinem vertraglichen Abschluss: Zehn neue Staaten mit 75 Millionen neuen EU-Bürgerinnen und -Bürgern traten der Europäischen Union bei. In alphabetischer Reihenfolge waren es: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Es war dies die fünfte und bisher größte Erweiterung der EU. Im Jahr 2007 wurden dann auch Bulgarien und Rumänien aufgenommen.
Die Aufnahme Polens und Ungarns hatte ein ganz besonderes politisches Gewicht. Heute stöhnt man auf, wenn diese Staaten genannt werden, weil Polen dann so lange autokratisch regiert worden ist und Ungarn immer noch autokratisch regiert wird. Der SPD-Politiker Günter Verheugen, der damals, als EU-Erweiterungskommissar, die großen Aufnahme-Verhandlungen meisterlich dirigierte, warnt heute freilich davor, die ungarische Demokratie enttäuscht und verbittert abzuschreiben. Am heutigen Sonntag feiert Verheugen seinen achtzigsten Geburtstag, und er sagt, weil er nicht schwarzmalen und unbedingt Hoffnung haben will: „Ungarn ist nach wie vor eine Demokratie, und das Schicksal, das Jarosław Kaczyński in Polen widerfahren ist, das wird Viktor Orbán auch passieren.“
Es bestand vor zwanzig Jahren die kraftvolle Hoffnung, dass Europa mit der Osterweiterung zu neuen Ufern aufbricht, dass die zweite Achse Europas stark und wirkmächtig wird. Das Europa der EU, die damals noch EWG hieß, also Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, hatte sich am Rhein entlang entwickelt, an der Nord-Süd-Achse Europas. Nun, mit der Osterweiterung, kam die West-Ost-Achse, die Donau-Achse, hinzu. Die Donau ist also eine Metapher für das große Europa; und das Verhältnis zwischen dem Rhein-Europa und dem Donau-Europa entscheidet die europäische Zukunft. „Seit dem Nibelungenlied stehen Rhein und Donau sich voller Misstrauen gegenüber“, schreibt der italienische Schriftsteller Claudio Magris in seiner wunderbaren Biografie über die Donau, die „Biografie eines Flusses“ heißt. Dieses Misstrauen muss verschwinden – dann wird aus einer Idee, aus einer Vision, eine Realität.
„Wie Völker ohne Krieg und Gewalt miteinander leben können“
Das ist in den zwanzig Jahren seit der Osterweiterung leider nicht gelungen; es entwickelte sich eine europäische Tragödie. Misstrauen ist nicht nur zwischen Rhein und Donau, es ist in ganz Europa gewachsen. Symbol dafür ist der Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der EU. Seit 1973 war das Vereinigte Königreich EU-Mitglied. Nach 47 Jahren Mitgliedschaft trat am 1. Februar 2020 das Austrittsabkommen in Kraft.
Es fehlen in den europäischen Regierungen die Leute, die den „Pulse of Europe“ schneller schlagen lassen. Es gab sie nach dem Zweiten Weltkrieg: da waren Leute wie der Niederländer Sicco Mansholt, der Belgier Paul-Henri Spaak, der Italiener Alcide De Gasperi, die Deutschen Konrad Adenauer und Walter Hallstein, die Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman. Emmanuel Macron immerhin wandelt in ihren Spuren. Aber wer wandelt mit? In ganz Europa werden die nationalistischen Töne lauter, und die Europawahlen im Juni werden darüber entscheiden, wie und wo künftig die Musik spielt.
Das letzte Buch von Helmut Kohl stammt aus dem Jahr 2014, es heißt: „Aus Sorge um Europa“. Darin schreibt er: „Im Ergebnis müssen der Westen ebenso wie Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht hatten.“ Kohl hat das nach der russischen Annexion der Krim publiziert. Ob er es nach dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine noch einmal so formulieren würde? Seine Sorge um Europa wäre aber gewiss noch viel größer als damals, vor zehn Jahren.
„Wir sahen Europa, das jahrhundertelang ein Unglück nach dem anderen über sich und die Welt brachte, als ein mögliches Vorbild dafür, wie Völker ohne Krieg und Gewalt miteinander leben können, als eine Ermutigung auch für andere, denselben Weg einzuschlagen. Dieser Weg bleibt richtig.“ Diese Aussage stammt nicht von Kohl, sondern vom seinerzeitigen EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Die Vision von einer europäischen Friedensordnung auch: „Wir Deutsche haben nach dem Zweiten Weltkrieg große Versöhnungsbereitschaft erfahren. Wir sollten die Ersten sein, die anderen die Hand zur Versöhnung reichen.“ Das stimmt.