Der Vatikan als Friedensmacht. Was macht er mit dieser Macht im Ukraine-Krieg?

Von Heribert Prantl

Sein Reich ist zwar auch von dieser Welt, aber es ist ganz, ganz winzig; es ist 0,44 Quadratkilometer klein, es hat nur 830 Einwohner. Der Papst hat keine Haubitzen, keine Panzer, keine Raketen; er hat nur 120 Schweizergardisten und er hat besondere Beziehungen zum Heiligen Geist.

Der Heilige Stuhl

Josef Stalin hat sich deshalb einst darüber lustig gemacht: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“, fragte er höhnisch, um so die vermeintliche außenpolitische Bedeutungslosigkeit des Vatikans zu illustrieren. Aber da hat sich der Diktator getäuscht. Die Sowjetunion, deren Truppen Stalin einst kommandierte, gibt es nicht mehr, der Vatikan aber lebt. Und ein Papst, es war Johannes Paul II., der Vorvorgänger des heutigen Papstes Franziskus, hat kräftig zum Zerbrechen des von Stalin geschaffenen Ostblocks beigetragen.

Der Vatikan ist eine Macht, und der Papst verkörpert sie: Nicht als Oberhaupt eines Superzwergstaates, sondern als der Mann auf dem Heiligen Stuhl. Der Heilige Stuhl ist ein eigenes Völkerrechtssubjekt neben dem Vatikanstaat; diesem Heiligen Stuhl sind religiös mehr als 1,2 Milliarden Katholiken zugeordnet, 5000 Bischöfe und 400 000 Priester. Der Heilige Stuhl ist der Sitz einer Macht, die sich seit 150 Jahren, seit dem Verlust des Kirchenstaats, als Friedensmacht versteht; sie unterhält Beziehungen zu 190 Staaten der Erde.

Putins Messdiener

Was macht Papst Franziskus mit dieser Macht im Ukraine-Krieg, was unternimmt er gegen diesen Krieg? „Stopp! Stoppt den Krieg“, rief er am 24. Februar, als die russischen Streitkräfte in die Ukraine einmarschierten. Er hat den Appell seitdem so oft wiederholt. Am ersten Tag des Krieges rief er persönlich den ukrainischen Präsidenten Selenskij an und versicherte ihm seine Solidarität, dann suchte er den russischen Botschafter auf mit der Aufforderung, „in Gottes Namen den Krieg zu beenden“. Er ließ Putin die Botschaft übermitteln, dass er bereit sei, nach Moskau zu reisen; bis heute hat er keine Antwort erhalten. Er führte ein vierzig Minuten langes Videotelefonat mit dem orthodoxen Moskauer Patriarchen Kyrill, der dabei zur Empörung von Franziskus zwanzig Minuten lang den Putin-Krieg rechtfertigte; der Papst unterbrach ihn dann und warnte, so schilderte er es selbst, Kyrill davor, „Putins Messdiener“ zu spielen.

Reicht das? Zumal in Deutschland wird Franziskus angekreidet, dass er noch nicht demonstrativ nach Kiew gereist sei. Und nach Moskau solle er dann, so hieß es in einem Kommentar, notfalls auch ohne Einladung Putins fliegen – man sinnt ihm quasi einen Canossa-Flug für den Frieden an; Putin werde es nicht wagen, ihn nicht zu empfangen, hieß es. Soll der Papst also drei Tage vor dem Kreml stehen und warten?

Die Kraft des Numinosen

In Mails und Briefen an die Kirchen heißt es auch, hohe Geistliche sollten in die Ukraine reisen und sich vor die russischen Panzer stellen: Das ist ein Vorschlag, der die Kardinäle, Bischöfinnen und Würdenträger im geistlichen Ornat hochschätzt, ihre Macht aber zugleich überschätzt und die Unübersichtlichkeit des Kampfgeschehens unterschätzt. Der Wunsch verwundert angesichts des Misstrauens gegen die Kirchen und der Massenflucht aus den Kirchen. Haben Kirchen doch noch geistliche Kraft, um Kriegen Einhalt zu gebieten durch ihre Präsenz? Wer solche Interventionen vorschlägt, rechnet offenbar mit der Anwesenheit des Numinosen. „Numinos“ – das ist ein Begriff aus der Theologie. Er meint die schaudernde Anziehungskraft des Göttlichen.

Die Friedensenzyklika „Pacem in terris“ aus dem Jahr 1963 mit ihrem Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten und Grundfreiheiten ist eines der wichtigsten Dokumente der neueren Papstgeschichte. Es stammt vom Papst Johannes XXIII., wurde mitten im Kalten Krieg veröffentlicht, zwei Jahre nach der Errichtung der Berliner Mauer und nur wenige Monate nach der Kubakrise. Es führt aus, dass Konflikte „nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen“ seien. Es war die erste Enzyklika, in der sich ein Papst nicht nur an die römisch-katholische Kirche, sondern „an alle Menschen guten Willens“ wandte.

In letzter Minute

Wo bleibt die Friedensmächtigkeit des Vatikans im Ukraine-Krieg, was tut die Friedensmacht für den Frieden – außer reden? Für den 23. März hatten Patriarch Kyrill und Franziskus gemeinsam einen humanitären Korridor aus Mariupol organisieren lassen. Die Busse standen – wie die italienische Wochenzeitung L’Espresso Anfang Mai berichtete – schon zur Abfahrt bereit, in letzter Minute haben die militärischen Oberbefehlshaber die Aktion gestoppt. Der vatikanische Außenminister reiste in die Ukraine. Hilfsgelder fließen; die Höhe ist nicht bekannt. Franziskus empfing die Frauen ukrainischer Soldaten zur Audienz, er begrüßte ukrainische Kinder und hielte eine Flagge aus der Stadt Butscha hoch. Seine Predigt beim Ostergottesdienst im Petersdom beendete er auf Ukrainisch.

Das „Bellen der Nato“

Im Gespräch mit der Zeitung Corriere della Sera vom 3. Mai sagte Franziskus zum Ukraine-Krieg, dass man „eine solche Brutalität einfach stoppen“ müsse; er verglich den Krieg mit dem Völkermord der Hutu an den Tutsi im Ruanda im Jahr 1994. Er versuchte aber auch zu ergründen, was Putin zum Krieg getrieben haben könnte. Seine Erklärung dazu ist im Westen heftig kritisiert worden: Vielleicht war es, meinte Franziskus da, „das Bellen der Nato vor dem Tor Russlands“. Franziskus spekulierte, dass Putins Wüten „vielleicht durch die Haltung des Westens begünstigt wurde“. Man wird diese Sätze einordnen müssen in den Versuch des Vatikans, in naher oder mittlerer Zukunft als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine zur Verfügung zu stehen. Geklappt haben vatikanische Friedensmissionen bisher nicht so oft – nicht im Ersten Weltkrieg, nicht im Zweiten, auch nicht im Vietnamkrieg. 1980 hat der Vatikan durch einen Schiedsspruch einen Krieg zwischen Argentinien und Chile verhindern können, 2014 hat er die Gespräche moderiert, die zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Kuba und den USA führten.

Der Vatikan als Friedensmacht

Von Giovanni Battista Montini, der als Paul VI. von 1963 bis 1978 Papst war, stammt der Satz: „Nichts ist für die katholische Kirche in der Völkergemeinschaft angemessener, als Frieden zu schaffen.“ Der Augsburger Kirchengeschichtler Jörg Ernesti hat diesen Satz seinem soeben im Herder-Verlag erschienenen sehr lesenswerten Buch „Friedensmacht. Die vatikanische Außenpolitik seit 1870“ als Motto vorangestellt. Seit Papst Leo XIII. (er war Papst von 1878 bis 1903) sei, so schreibt Ernesti in diesem Buch, „die Überparteilichkeit des Heiligen Stuhls zu einem zentralen Requisit der vatikanischen Außenpolitik“ geworden. Es gibt freilich eine Überparteilichkeit, die zur Mitschuld wird. Pius XII. (er war von 1939 bis 1958 Papst) war so lange diplomatisch und leisetreterisch im Umgang mit den Nationalsozialisten, bis alles zu spät war.

örg Ernesti sieht „eine gewisse Parallele zur heutigen Zeit“: Auch Pius XII. habe als möglicher Friedensvermittler im Spiel bleiben und die humanitären Aktionen der Kirche nicht gefährden wollen. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Zeitung meint Ernesti, Franziskus werde irgendwann nicht mehr umhinkommen, den Aggressor Putin klar und deutlich zu verurteilen – spätestens dann, wenn eine vatikanische Friedensvermittlung und humanitäre Korridore nicht mehr realistisch seien: „Sonst verspielt er seinen moralischen Kredit wie einst Pius XII.“

Nun: Leisetreterisch war Franziskus bisher bei seinen Äußerungen zum Ukraine-Krieg nicht. Es ist auch klar, auf wessen Seite er steht. Aber er scheut bisher die glasklare Verurteilung Putins. Er wartet auf das Pfingstwunder – darauf, dass er mit Putin reden und ihn von einem Rückzug überzeugen kann. Da bräuchte er überirdische Hilfe, die Kraft des Heiligen Geistes. Der Geist schwebt über dem Wasser, so steht es in der Bibel. Die Moskwa, der Moskau-Fluss, ist auch ein Wasser. Aber der Geist ist bisher dort nicht eingetroffen.

 


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