Asylbetrüger sind nicht Flüchtlinge, die Schutz vor Verfolgung und Hilfe in der Not suchen – sondern Politiker, die ihnen Schutz und Hilfe verweigern.

Von Heribert Prantl

Der freundliche alte Herr war besorgt. „Ich hoffe“, so sagte er, „die Kinder haben keine Angst.“ Nein, vor ihm hatten sie keine Angst. Richard von Weizsäcker lächelte ja großväterlich, er kam bei Tage und hatte viele Sicherheitsbeamte dabei. Und die Polizei war da und ein bisschen Rührung auch, als der Bundespräsident den kleinen Flüchtlingsjungen auf den Arm nahm. Solang er da war, waren die Asylbewerber sicher.

Als er ging, war die Angst wieder da: die Angst vor den Ausländer- und Flüchtlingsfeinden, vor ihren Prügeln, ihren Brandsätzen, vor dem irren Hass, vor der Gewalt, die um sich griff wie eine Seuche. So war das vor dreißig Jahren, in der zweiten Amtszeit des Präsidenten Richard von Weizsäcker. So war das damals, als das Asylgrundrecht geändert wurde, um, wie es hieß, den rechtsradikalen Kräften das Wasser abzugraben.

Fatale Kompromisse

Was hat sich geändert seitdem? Immerhin dies: Es ist heute unvorstellbar, dass sich ein Spitzenpolitiker nach einem Anschlag so verhält, wie sich damals, nach dem Brandanschlag von Solingen, Kanzler Helmut Kohl verhalten hat. Er weigerte sich, an der Trauerfeier für die fünf ermordeten türkischen Frauen und Mädchen teilzunehmen. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel verwies auf die „weiß Gott anderen wichtigen Termine“ des Kanzlers; man wolle schließlich nicht „in Beileidstourismus ausbrechen“.

Der Brandanschlag von Solingen geschah drei Tage nach der Beseitigung des alten Asylgrundrechts, die mit den Stimmen der CDU/CSU, einem Großteil der Stimmen der FDP und einer Stimmenmehrheit der SPD im Bundestag beschlossen worden war. „Asylkompromiss“ hieß das damals. Bundespräsident Weizsäcker hat diesen fatalen Kompromiss, es war fast am Ende seiner zweiten Amtszeit, unterschrieben und damit in Kraft gesetzt, obwohl er noch 1991 versprochen hatte: „Das Asylrecht ist und bleibt unantastbar“. Leidenschaftlich für Flüchtlinge und den Flüchtlingsschutz gestritten hat Richard von Weizsäcker erst dann, als er dann Altbundespräsident war.

Was hat sich geändert? Wird Frank-Walter Steinmeier, der heutige Bundespräsident, widersprechen, wenn in ein paar Tagen wieder ein Asylkompromiss beschlossen wird? Wird er sich trauen, was Weizsäcker sich damals nicht getraut hat? Es ist dies heute ein in seinen Auswirkungen noch viel schärferer Kompromiss, als es der Kompromiss vor dreißig Jahren war. Es ist diesmal ein Kompromiss auf europäischer Ebene; ein Kompromiss der EU-Staaten, der dem Drängen der rabiaten Grenzabriegler wie Polen und Österreich nachgibt, aber auch den gar nicht mehr so heimlichen Wünschen der deutschen Regierung entspricht.

Die Bundesregierung will am 8. Juni im Rat der EU den Plänen zur Reform des gesamten europäischen Asylsystems zustimmen: Es sollen Haftlager an den Außengrenzen errichtet, es sollen dort Schnellverfahren betrieben und die Flüchtlinge dann in angeblich sichere Drittstaaten, irgendwo in Afrika, abgeschoben werden. Das Prinzip der deutschen Grundgesetzänderung von 1993 wird auf die europäische Ebene gehoben. Europa sagt: Asyl ja, aber nicht bei uns.

Migration als zivilisatorische Notwendigkeit

Was hat sich geändert? Die Zahl der Schutzsuchenden ist noch viel höher als damals, weil zu den Flüchtlingen aus den klassischen Fluchtländern die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kommen. Sie Gesamtzahlen liegen ein Vielfaches höher als damals, 1993, als dieser Zahlen wegen das deutsche Asylgrundrecht geändert wurde. Und es ist noch immer so, dass viele der Einwanderer in der Tat kein klassisches Asyl brauchen; sie wollen heraus aus ihren Armutsgesellschaften, sie wollen heraus aus Hunger und bitterer Not – aber „Asyl“ ist eben der einzige Weg, der sich ihnen bietet.

Es muss bessere Wege für die legale Zuwanderung nach Europa und nach Deutschland geben. Darüber wird nun seit Jahrzehnten geredet; herausgekommen ist praktisch nichts. Es gibt die Konzepte und Vorschläge dafür zuhauf: Sie handeln von einem Punktesystem und von Aufnahmequoten in den einzelnen EU-Staaten, die sich an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft orientieren. Zu den klugen, aber seinerzeit beiseite geschobenen Konzepten gehört vor allem das „Manifest der 60“, die große Schrift, in der sechzig deutsche Wissenschaftler aller Fachrichtungen 1994 für eine quotierte Einwanderung warben und Regeln dafür vorstellten.

Der französische Historiker Fernand Braudel, der vor Jahrzehnten eine Universalgeschichte des Mittelmeerraums verfasst hat, nannte die Migration eine zivilisatorische Unentbehrlichkeit. Ebenso entbehrlich wie gewaltig sind freilich die Schäden, die die Zivilisation in der Heimat der Migranten angerichtet hat. Und ganz und gar entbehrlich ist dabei, dass sie auf Todesrouten nach Europa kommen müssen.

Was hat sich geändert? Der deutsche Asylkompromiss von 1993 beruhte auf der Idee, den Flüchtlingsschutz auszulagern – damals auf die EU-Staaten an den Außengrenzen Europas. Der europäische Asylkompromiss von 2023 will den Flüchtlingsschutz jetzt auf die Staaten jenseits der Außengrenzen auslagern; Staaten wie Ruanda, Senegal oder Tunesien sollen viel Geld dafür erhalten, dass sie bei der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitmachen.

Das Gericht hat sich einlullen lassen

Das ist also nun, nach dreißig Jahren, das angebliche Schutzkonzept, von dem der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) schwärmte, als er den Asylkompromiss des Jahres 1993 vor dem Bundesverfassungsgericht verteidigte: Das neue deutsche Asylrecht, so der Bundesinnenminister damals, sei Grundstein für ein EU-Schutzkonzept, dessen schützende Wirkung sich erst noch entfalten müsse; Kanther bat deshalb die Verfassungsrichter, diesen Entfaltungsprozess nicht zu stören.

Das Gericht hat sich damals einlullen lassen. Das Asylurteil vom 14. Mai 1996, in dem Karlsruhe die Grundgesetzänderung von 1993 akzeptierte, ist das Ergebnis. Entfaltet hat sich nicht das versprochene Konzept eines Verantwortungszusammenhangs, sondern ein System der Unverantwortlichkeit – das jetzt, im Juni 2023, mit dem europäischen Asylkompromiss, buchstabiert und exekutiert wird. Als „Asylbetrüger“ werden Flüchtlinge seit Jahrzehnten beschimpft. Sind die wahren Asylbetrüger nicht diejenigen Politiker, die Flüchtlinge um ihren Schutz betrügen?

Zuständig für die Flüchtlinge, das war ein Kern des deutschen Asylkompromisses von 1993, sollte der EU-Staat sein, den die Flüchtlinge auf ihrer Flucht als ersten betreten. Der Asylkompromiss ging aus von der selbstbetrügerischen Gewissheit, als Land ohne EU-Außengrenzen fein raus zu sein und die anderen Staaten, die an den Außengrenzen nämlich, die Arbeit machen zu lassen. Dieses Projekt setzt die EU nun fort; die geplanten Außenlager sind das Symbol dafür. Die Flüchtlinge sollen nun schon an den Außengrenzen in Lagern festgehalten und dann, wenn irgend möglich, in Staaten außerhalb der EU zur Weiterbehandlung abgeschoben werden.

Der europäische Irrglaube

So wie 1993 in der deutschen Politik das Asylgrundrecht als Ballast betrachtet wurde, wird jetzt in Europa die Genfer Flüchtlingskonvention als Ballast betrachtet. So wie sich damals Deutschland von Rechtsaußen hat treiben lassen, so lässt sich jetzt Europa von Rechtsaußen treiben. So wie man vor dreißig Jahren glaubte, mit einer rabiaten Anti-Flüchtlingspolitik könne man den rabiaten, den extremen, den flüchtlingsfeindlichen Kräften das Wasser abgraben, so glaubt man es heute auch – immer noch, immer wieder.

Es ist ein Irrglaube. Auf diese Weise wird menschenfeindliche Politik normalisiert. Und schon wieder kommt, diesmal aus Sachsen, vom dortigen CDU-Ministerpräsidenten, der Ruf, das vor dreißig Jahren geänderte Asylgrundrecht noch einmal zu ändern. Nun sollen auch noch die verbliebenen Reste des Asylgrundrechts weggekehrt werden.

Richard von Weizsäcker hat einst die Probleme auf die Formel gebracht: „Asyl ist für Menschen, die uns brauchen. Einwanderung ist für die Menschen, die wir brauchen.“ Sie galt damals, sie gilt heute. Es wäre dies eine gute Formel für die bevorstehende europäische Ratssitzung. Sie ist der Grundgedanke für eine gute EU-Migrationspolitik.

 


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