Die SPD hat eine lange Tradition als Friedenspartei. Doch auch sie denkt allein in Abschreckungskategorien, lässt abweichende Meinungen kaum zu. Das Ringen darum, wie „Frieden schaffen“ geht, braucht Raum – zum Beispiel auf dem Parteitag am kommenden Wochenende.
Von Heribert Prant
Der Leitantrag auf dem bevorstehenden SPD-Parteitag hat den Titel: „Veränderung beginnt mit uns“. Das ist leider wahr. Die Veränderung der SPD ist schon sehr fortgeschritten: Sie ist eine diskussionsfaule Partei geworden. Diese Diskussionsfaulheit gerade in den großen Fragen von Abschreckung und Sicherheit tut Deutschland nicht gut und der Partei auch nicht.
Diese Diskussionsfaulheit hat dazu beigetragen, dass die SPD bei der vergangenen Bundestagswahl ein so elendes Ergebnis erzielt hat – ganze 16,4 Prozent der Zweitstimmen. Es war das historisch schlechteste Ergebnis der SPD bei einer Bundestagswahl, mehr noch: Es war ihr schlechtestes Ergebnis bei einer freien nationalen Parlamentswahl seit der Reichstagswahl von 1887.
Die SPD hat sich das keine Lehre sein lassen. Sie vertritt das, was Union und Grüne auch vertreten. Sie ist so aufrüstungsfixiert, wie sie es in ihrer ganzen langen Geschichte nie war. Sie lässt abweichende, sie lässt mahnende, sie lässt kritische Stimmen kaum hochkommen: Sie setzt auf allein auf militärische Abschreckung; sie hält einem bellizistischen Alarmismus nichts entgegen, der davon ausgeht, ein russischer Angriff auf die EU sei eine längst beschlossene Sache.
Das „Manifest zur Friedenssicherung“ hätte eine gute Diskussionsgrundlage sein können
Sie setzt weiter darauf, Russland durch scharfe Sanktionen zu ruinieren. Sie hält es für ein unabweisbares Gebot, das größte Land Europas als eine Art Erbfeind für alle Zukunft zu betrachten. Das ist falsch. Das finale und zielgerichtete Hinausdrängen Russlands aus dem europäischen Raum ist eine Selbstverstümmelung Europas.
Das Manifest zur „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“, das hohe SPD-Funktionsträger a. D. (unter anderem der vormalige Fraktionschef Rolf Mützenich und der frühere Parteichef Norbert Walter-Borjans) vor Kurzem zum Ukrainekrieg publiziert haben, hätte eine gute Grundlage für eine gehaltvolle sicherheitspolitische Diskussion sein können.
Die SPD hätte so zeigen können, dass sie Erfahrung darin hat, notwendige Verteidigungsfähigkeit mit einer Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zu verknüpfen. Sie hätte damit an Willy Brandt, Egon Bahr und auch an Helmut Schmidt erinnern können. Stattdessen hat der jetzige Parteichef Lars Klingbeil die Manifest-Ideen abgewimmelt. Adis Ahmetovic, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat das Manifest als „inhaltlich fragwürdig“ bezeichnet. Und Sebastian Fiedler, der innenpolitische Sprecher, erklärte, das Manifest habe ihn „irritiert, verstört und verärgert“.
Kriegsrhetorik ist nicht per se Ausdruck von Moral
Es irritiert und verstört indes eher, dass die SPD die Diskussion nicht führt, die sich jedenfalls ein großer Teil der deutschen Bevölkerung wünscht. Es irritiert und verstört, dass die SPD das Friedensgebot des Grundgesetzes, das in den Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahren zu den Fundamenten der Partei gehörte, so wenig ernst nimmt. Es irritiert und verstört, dass auch eine Partei wie die SPD allein in Abschreckungskategorien denken will. Es wäre gut, wenn die SPD das „Manifest zur Friedenssicherung“ als Antrag auf ihrem Parteitag diskutieren würde. Es wäre gut, wenn bei der SPD das Ringen darüber Raum hätte, wie ein „Frieden schaffen“ gehen könnte.
Es wäre gut, wenn eine Partei wie die SPD auf ihrem Parteitag sagen könnte, dass man manchmal verhandeln muss, um überhaupt zu Verhandlungen zu finden. Es wäre gut, wenn diese Partei, die eine lange Tradition als Friedenspartei hat, darauf hinweisen und hinwirken würde, dass Kriegsrhetorik, wie sie derzeit in Deutschland zum politischen Mainstream zählt, nicht per se ein Ausdruck von Moral ist.
Die SPD war eine Partei, in der so oft und so gut fundamental und radikal gestritten und gerungen wurde. Die SPD hat sich intellektuell gefetzt, sie ist schier explodiert. Heute fetzt nichts mehr, heute explodiert nichts; die Partei implodiert fast lautlos. Sie muss zurück zu dem, was sie kann, was sie immer wieder gekonnt hat: eine andere Politik aufzeigen. In der Opposition gegen Adenauers Politik der Wiederbewaffnung und Aufrüstung ist sie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren demokratisch erstarkt. „Was ist der Ernstfall?“, so hat 1969 Gustav Heinemann, der erste SPD-Bundespräsident, in seiner Antrittsrede gefragt. Und er gab die Antwort: „Der Frieden ist der Ernstfall.“
Wie kann eine zukünftige Sicherheitsordnung vorbereitet werden?
Das Friedensgutachten 2025 der vier deutschen Friedensforschungsinstitute ist eine tiefschürfende Grundlage für tiefschürfende Debatten. Das Bonn International Centre for Conflict Studies, das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, das Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen und das Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main haben eine Analyse vorgelegt, die zugleich fasziniert und beunruhigt: „Gegenwärtig ist nicht klar, in welche langfristige Strategie die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands eingebettet und mit welchen diplomatischen Initiativen die regelbasierte Ordnung aufrechterhalten werden soll.“
Die Autoren haben ihrer Analyse den Titel „Frieden retten!“ gegeben. Die europäische Sicherheitsordnung, so das Gutachten, müsse so ausgerichtet werden, dass sie eine „zukünftige Sicherheitsordnung nicht verhindert, sondern vorbereitet.“ Das ist eine Herausforderung für eine Partei mit einer Friedenstradition, wie sie die SPD hat.
Vor bald zehn Jahren ist Egon Bahr gestorben: Er war der große Alte in der SPD, er stand für visionären Pragmatismus. Dieser visionäre Pragmatismus hatte, seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, vermeintlich Unmögliches zum Ziel: mit einer ideologie- und illusionsfreien Politik dem Kalten Krieg allmählich ein Ende zu machen. Das Unmögliche wurde möglich.
Bahr hat sich bei seinem „Wandel durch Annäherung“ nicht irritieren lassen von Herbert Wehner, der das zunächst für „bahren“ Unsinn hielt, und schon gar nicht von der CDU, die von „Wandel durch Anbiederung“ sprach. Heute geht es nicht um die Beendigung eines kalten, sondern eines heißen Krieges – aber ohne ein Aufeinanderzugehen und ohne ein Miteinanderreden wird es nicht gehen. Die SPD wird bei sich selbst damit anfangen müssen.