Die apokalyptischen Reiter sind heute atomar bewaffnet. Eine Pfingstgeschichte und ein Pfingstbild als Augenöffner im Krisenjahr 2024.

Von Heribert Prantl

Meine Lieblingsgeschichte in der Pfingstzeit handelt von Stanislaw Petrow. Sie spielt in der Nacht des 26. September 1983; es war in der hohen Zeit des Kalten Krieges. Die Atomraketen der zwei Supermächte, der USA und der Sowjetunion, waren aufeinander gerichtet. Und man wusste: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Die Sowjets hatten seit Mitte der Siebzigerjahre mehr als 400 Raketen des Typs SS-20 aufgestellt, die meisten davon waren auf Ziele in Westeuropa programmiert. Der Westen hatte seinerseits mit massiver Aufrüstung reagiert, die USA stellten in Westeuropa die Pershing-II-Raketen auf. US-Präsident Ronald Reagan wollte die Sowjetunion, das „Reich des Bösen“, mit einem Wettrüsten in die Knie zwingen. Moskau rechnete mit einem Überraschungsangriff der USA, Sowjetführer Juri Andropow war überzeugt, Amerika plane den atomaren Erstschlag.

Er hat den dritten Weltkrieg verhindert

Das war die hoch bedrohliche politische Stimmung in der genannten Nacht, in der Stanislaw Petrow, 44 Jahre alt und Oberstleutnant, der diensthabende Offiziere war im Kommandobunker der sowjetischen Luftwaffe; hier, neunzig Kilometer südlich von Moskau, befand sich die Zentrale des satellitengestützten sowjetischen Raketenwarnsystems. Kurz vor Mitternacht heulten die Sirenen, auf dem riesigen Bildschirm vor Petrow leuchteten die roten Alarm-Buchstaben, das System meldete den Abschuss einer Atomrakete von einer US-Basis aus – Beginn der Apokalypse. Es blieben 25 Minuten bis zum Einschlag irgendwo in Russland. Petrow entschied sich, seinem unguten Bauchgefühl zu vertrauen, er ignorierte das Frühwarnsystem, er ignorierte es auch, als die Computer vier weitere angebliche US-Raketenstarts meldeten. Petrow ging von einem Fehlalarm aus. Es war einer: Er war von einem Satelliten ausgelöst worden, der aufgrund einer fehlerhaften Software den Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstart in den USA interpretiert hatte. Ob die KI anstelle von Petrow auch die Nerven behalten hätte?

Vor genau zwanzig Jahren wurde Petrow für sein Verantwortungsbewusstsein mit dem Weltbürgerpreis geehrt. Weitere Auszeichnungen folgten. In Oberhausen (wo sich Freunde von Petrow um das Angedenken an ihn besonders kümmern) stehen Gedenktafeln in drei Sprachen. Die Inschrift lautet: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“ Die Gefahr ist 41 Jahre später nicht gebannt. Im Gegenteil.

Krieg und Mord, Teuerung und Tod

Nach der Lieblingserzählung mein Lieblingsbild. Auf meinem Lieblingsbild an Pfingsten 2024 sieht man deshalb nicht den Heiligen Geist, sondern die apokalyptischen Reiter. Das Bild ist nur 28,4 x 39,6 Zentimeter groß. Mehr brauchte Albrecht Dürer nicht, um die apokalyptischen Reiter loszulassen; mehr brauchte er nicht, um Krieg und Mord, um Seuchen und Hunger, um Teuerung und Tod darzustellen. Auf so kleiner Fläche inszeniert er im Jahr 1498, auf einem Holzschnitt, den großen Weltuntergang. Wer in Dürers düsterem Kunstwerk den Geist eines dunklen Mittelalters mit seinen Höllenängsten und religiösen Verblendungen am Werk sieht, der irrt. Dürer ist ein großer Desillusionierer, Realist und Aufklärer, der seinen Zeitgenossen die Augen für den Ernst der Lage öffnet.

Seine vier apokalyptischen Reiter sind endzeitliche Gestalten aus dem letzten Buch der Bibel, das Apokalypse genannt wird. Der Erste reitet auf einem weißen Pferd und hat einen Bogen. Ihm wird der Sieg gegeben. Der Zweite reitet auf einem feuerroten Pferd, er hat ein großes Schwert; ihm ist die Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, sodass die Menschen einander umbringen. Der Reiter auf dem dritten, dem schwarzen Pferd, hält eine Waage in der Hand, auf der der Weizen und die Gerste ausgewogen werden; er bringt die Teuerung und damit den Hunger in die Welt. Die Öffnung des vierten Siegels der Apokalypse schließlich macht die Bahn frei für den Reiter auf dem fahlen Ross. Dessen Name ist „Tod“, und die Hölle zieht mit ihm einher.

Wir kommen davon, gerade noch so

Albrecht Dürers Reiter rasen vom linken Bildrand auf ihren Rossen heran, unaufhaltsam in ihrem Furor: Es sind drei martialische, muskulöse Krieger mit Bogen, Schwert und Waage; der Vierte ist kleiner, aber nicht weniger angsteinflößend im Vordergrund; er ist ein schmächtiges, giftig grinsendes Männlein auf einem halb verhungerten Klepper. Er ist der Tod, der mit seinem Dreizack die niedergetrampelten Menschen in den Schlund der Hölle kehrt. Das Höllenmonster, erst auf den zweiten Blick erkennbar, reißt am unteren linken Bildrand sein Maul auf und verschlingt die Opfer. Flucht ist sinnlos. Keiner entkommt. Keiner überlebt – außer: die Betrachter. Wir, die das Bild anschauen und uns in seinen Bann ziehen lassen, kommen davon, so gerade noch. Die apokalyptischen Reiter sind um Haaresbreite an uns vorbeigejagt. Es ist, als würden wir das Dröhnen der Hufe hören, den Dampf der Rosse atmen und den Staub schlucken, so nah sind wir dem Geschehen.

Wir sind die verschonten Zuschauer des Terrors, die am Spielfeldrand des Krieges stehen, vom Schrecken gepackt und von der Einsicht: Es hätte auch uns treffen können. Wir sind entronnen. Für dieses Mal. Und wir wissen: Die apokalyptischen Reiter von heute sind atomar bewaffnet.

 


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