Glanz und Versagen des Bundesverfassungsgerichts: Die Reputation und die Autorität des Gerichts ist an einem Kipp-Punkt.

Von Heribert Prantl

Der bisherige Generalbundesanwalt Peter Frank wird neuer Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe; das hat die CSU in einem wenig transparenten, kuddelmuddeligen Verfahren so durchgesetzt. Es ist dies keine Kritik an der Person und dem Können von Peter Frank, der ein Spitzenjurist ist und der sein bisheriges Amt des Chef-Anklägers in Deutschland mit untadeliger Akkuratesse und einer stillen Verve geführt hat. Er war bei Amtsantritt der jüngste Generalbundesanwalt, den es je gab und er wurde einer, der seine gute Arbeit nicht an die große Glocke hing. Zuvor war er Personalchef im bayerischen Justizministerium gewesen und dann, für kurze Zeit, Generalstaatsanwalt in München.

Partei und Proporz

Die CSU hatte eigentlich ihren früheren bayerischen Justizminister Winfried Bausback ans höchste Gericht entsenden wollen, aber diesen Plan wieder aufgegeben, als sie herausgefunden hatte, dass der heutige Rechtsprofessor einst in seiner Doktorarbeit über das Wahlrecht zum Bundestag eine der CSU missliebige Ansicht vertreten hatte. Es ist dies ein Exempel für die Schacherei, die bei der Richterernennung betrieben wird. Die zwei Senate des Gerichts werden nach politischem Proporz besetzt, die Kandidaten werden zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP ausgehandelt, die Linke und die AfD blieben bisher unbeteiligt. Die Zweidrittelmehrheit, die man zur Wahl braucht, kam auch ohne sie zustande.

Karlsruhe ist ein Wunderort. Was Altötting für den deutschen Katholizismus ist, das ist Karlsruhe für den deutschen Rechtsstaat. Hier wie dort erwarten die Gläubigen Wunder. Das vielleicht größte Karlsruher Wunder besteht darin, dass das Bundesverfassungsgericht es geschafft hat, trotz eines dürftigen Fundaments, trotz eines problematischen Prozedere bei Auswahl und Wahl der Bundesverfassungsrichter sich so großes Vertrauen erworben zu haben. Die Richterwahl sei „von Haus aus verfassungswidrig“: Das sagte nicht irgendein Doktorand der Rechte, sondern einer der hervorragendsten Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Richard Thoma. Seit diesem bitteren Votum aus den frühen Jahren der Bundesrepublik hat sich an den Wahlverfahren fast nichts geändert. Die Mehrzahl der Staatsrechtsprofessoren akzeptiert die suspekten Prozeduren als Gewohnheitsrecht. Viele Experten, wie in den Kommentarwerken zum Bundesverfassungsgerichts nachzulesen, sind aber noch heute der Meinung von Richard Thoma.

Etwas unbeleckt vom Leben

Allerdings hat das suspekte, parteipolitisch gelenkte Verfahren, so angreifbar es auch ist, bis auf wenige Ausnahmen respektable Ergebnisse gezeitigt: Richterpersönlichkeiten, die ihre Unabhängigkeit unter Beweis gestellt und sich ihrer Verantwortung trotz aller Vorab-Befürchtungen als würdig erwiesen haben. Das gilt auch für die Richter, die aus der Politik kamen – exzellente Beispiele sind etwa Jutta Limbach, Ernst Benda und Christine Hohmann-Dennhardt. Limbach war erst SPD-Justizsenatorin in Berlin und dann, von 1994 bis 2002, Präsidentin des Verfassungsgerichts. Benda war erst CDU-Bundestagsabgeordneter und Bundesinnenminister, dann, von 1971 bis 1983, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Christine Hohmann-Dennhardt war SPD-Ministerin erst für Justiz, dann für Wissenschaft und Kunst in Hessen; sie wirkte dann von 1999 bis 2011 im Ersten Senat und war für das Familienrecht zuständig. Immer wieder haben in Karlsruhe Richter, die als „rot“ oder „schwarz“ eingestuft und auch deswegen ausgesucht worden waren, ihre Souveränität bewiesen: Sie haben dann als Richter gar nicht im Sinn der Partei votiert, die sie benannt hatte. In Karlsruhe haben sie dann nämlich den Geist der Unabhängigkeit inhaliert. Es ist eher eine Krux, dass fast nur noch Professoren und Richter, die etwas unbeleckt sind vom Leben, zum Verfassungsrichter gewählt werden.

Die Grundrechte als Lebensordnung

Ohne dieses Gericht wäre die Bundesrepublik eine andere Republik – eine Republik, in der das Recht weniger Bedeutung und die Grundrechte weniger Glanz hätten, in der der Weg zur Gleichberechtigung länger gewesen und die Rechte von nicht ehelichen Kindern und von gesellschaftlichen Minderheiten weniger geachtet worden wären. Die Grundrechte wurden vom Bundesverfassungsgericht 1958 im Lüth-Urteil mit einer Strahlkraft versehen, die in alle Lebensbereiche hineinleuchtet. Sie waren von da an nicht mehr nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern zeigten ihre Wirkung auch im Verhältnis der Bürger untereinander. Die Grundrechte wurde zu einer Lebensordnung. Und die Verfassungsbeschwerde gehört seitdem zur Identität der Bundesrepublik. Nur die allerwenigsten dieser Verfassungsbeschwerden haben zwar Erfolg. Aber schon die bloße Möglichkeit für jedermann und jede Frau, sich direkt und sogar ohne Anwalt an Karlsruhe zu wenden, hat das Verfassungsgericht zu einem Leuchtturm gemacht.

Der Leuchtturm hat Aussetzer. In der Corona-Krise hat sich das Gericht an einer grundlegenden Entscheidung vorbeigemogelt. Die Grundrechte standen unter staatlicher Quarantäne, aber Karlsruhe hat sich geweigert, die substanziellen Beschränkungen durch den Staat eingehend zu prüfen. Das Gericht fabulierte von einem angeblich schlüssigen Gesamtkonzept der Corona-Bekämpfung und ersparte sich so die penible grundrechtliche Prüfung der einzelnen Bekämpfungsmaßnahmen. Die Karlsruher Beschlüsse gaben der Politik fast alle Freiheiten bei der Corona-Bekämpfung. Das Grundgesetz wurde von Karlsruhe quasi unter Pandemievorbehalt gestellt. Das Verfassungsgericht ging dabei befremdlich vor: Erst kam ein Lobpreis der Grundrechte. Die Handlungsfreiheit wurde schön ausgemalt, das Persönlichkeitsrecht wurde gestärkt, der grundrechtliche Schutz der Familie, auch der Patchworkfamilie, wurde betont, den Kindern und Jugendlichen ein Recht auf Bildung, ein Recht auf Schule zuerkannt. Und dann wurde gesagt, dass das alles im konkreten Fall nicht helfe und die schweren Eingriffe in diese Rechte zulässig seien. Die Grund- und Bürgerrechte wurden erst hochgeschossen, dann abgeschossen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der grundrechtskritischsten Zeit der Republik versagt.

Wie Freiheit gesichert werden soll

Diesem historischen Versagen steht der historische, der zukunftsweisende Klimabeschluss vom Frühjahr 2022 gegenüber. Karlsruhe stellte fest, dass die junge Generation einen Anspruch darauf hat, die Lasten des Klimawandels nicht allein zu tragen. Das Verfassungsgericht warnte vor einer „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ der schon jetzt anfallenden Emissionen und schrieb daher vor: Wenn künftig Freiheit geschont und gesichert werden soll, müsse der Übergang zur Klimaneutralität jetzt radikal eingeleitet werden. Das war eine Entscheidung des Ersten Senats. Der Zweite Senat hat nun in seinem Schuldenbremsen-Urteil die Maßnahmen, die die Ampelregierung zur Befolgung des Klimabeschlusses des Ersten Senats eingeleitet hatte, weggekickt. Es weiß offenbar die eine Hand nicht, was die andere tut.

Das Bundesverfassungsgericht ist an einem Kipp-Punkt seiner Geschichte. Die Autorität des Gerichts ist nicht vom Himmel gefallen. Das Gericht hat sie erworben. Es kann sie auch wieder verspielen. Es wird zu den Fundamentalfragen der Politik Stellung nehmen müssen, zu Krieg und Frieden, dazu, wie das Friedensgebot der Präambel des Grundgesetzes zu interpretieren ist. Da wird es sich nicht, wie bei Corona, mit ein paar schwammigen Sätzen aus der Affäre ziehen können.


Newsletter-Teaser

Spread the word. Share this post!