Vor siebzig Jahren wurde zum ersten Mal erfolgreich eine Niere verpflanzt. Doch viele Menschen warten lange, zu lange auf ein Spenderorgan. Ein Gesetzentwurf versucht, diesen Mangel zu beheben. Das Anliegen ist richtig, die Methoden sind es nicht.
Von Heribert Prant
In der Geschichte der Organspende und der Transplantationsmedizin ist Weihnachten 1954 ein wichtiges Datum. Vor siebzig Jahren, am Tag vor dem Heiligen Abend, gelang dem Chirurgen Joseph E. Murray im damaligen Peter Bent Brigham Hospital in Boston die weltweit erste erfolgreiche Nierentransplantation. Der Lehrer Ronald Herrick hatte die Niere gespendet, die dann seinem todkranken Zwillingsbruder Richard transplantiert wurde.
Richard überlebte, er heiratete eine Krankenschwester aus der Klinik und wurde Vater zweier Kinder; er starb acht Jahre später an einem Herzversagen. Bruder Ronald, der Organspender, lebte nach der Operation noch über fünfzig Jahre. Im Jahr 1962 führte Doktor Murray dann die erste erfolgreiche Nierentransplantation von einem verstorbenen Spender durch. 1990 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Seitdem es Medikamente gibt, die eine Abstoßung der fremden Organe verhindern, sind Organtransplantationen fast zur medizinischen Routine geworden.
Die Not der Wartenden ist erbarmungswürdig
Deutschland ist ein Land der Geldspender; ein Land der Organspender ist es nicht. Im Jahr 2023 haben 8385 Patientinnen und Patienten auf ein Organ gewartet; es wurden jedoch nur 2877 Organe von 965 Personen gespendet. Jedes Jahr sterben Tausende Menschen, die vergeblich auf ein zu transplantierendes Organ warten. Die Not der Wartenden ist erbarmungswürdig. Deshalb gab und gibt es immer wieder Gesetzesinitiativen, mit denen der Mangel an Spenderorganen behoben werden soll. Das Anliegen ist richtig, die vorgeschlagene Methode ist falsch.
Es stellt sich die Frage, ob der Rettungsakt staatlich dekretiert werden darf. Diese Initiativen laufen nämlich stets auf eine Art Organspendepflicht-Gesetz hinaus: Es wird damit jeder Mensch automatisch zum Organspender „post mortem“, also nach dem Tod gemacht – wenn er nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hat. Diese sogenannte Widerspruchslösung soll die bisher geltende Zustimmungslösung ablösen. Seit ein paar Monaten liegt dem Bundestag wieder ein einschlägiger Gesetzentwurf vor, diesmal des Bundesrats: ein Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes und zur Einführung der Widerspruchslösung.
Der Mensch hat nicht nur einen Körper, er ist ein Körper
„Nach meinem Tod“ steht heute im Organspendeausweis der Menschen, die für den Fall des Falles ihre ausdrückliche Zustimmung zur Organspende abgeben. Der Fall des Falles ist der Hirntod. Nach (noch?) geltender Rechtslage muss ein Spender zu Lebzeiten seine ausdrückliche Zustimmung zur Explantation, also zur Entnahme von Organen aus seinem Körper geben. Deshalb ist heute der Name „Spende“ sehr berechtigt. Die Organspende ist ein dokumentierter willentlicher Akt des Spenders. Nach künftig geplanter Rechtslage ist das nicht mehr so. Es wird jeder Mensch, der nicht in einem Dokument der Entnahme seiner Organe ausdrücklich widersprochen hat, zum potenziellen Organspender, genauer gesagt zum Transplantationsobjekt – um so die Zahl von Organen zu erhöhen, die transplantiert werden können.
Das ist ein sehr zweckrationaler, ein ökonomistischer Umgang mit Toten und Sterbenden, der nicht zum Menschenbild des Grundgesetzes passt. Die Bedürftigkeit des leidenden Menschen, der ein Organ braucht, um weiterleben zu können, kann für den Staat kein Argument sein, die Integrität und Autonomie eines anderen Menschen beiseitezuschieben.
Der Mensch hat nicht nur einen Körper, er ist Körper; er ist nicht Mensch jenseits des Körpers; er ist nicht einfach nur Gehirn. Und die Menschenwürde ist mit der Körperlichkeit verknüpft. Der oberste Satz des Grundgesetzes heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Er heißt nicht: Die Würde des Gehirns ist unantastbar. Der Mensch kann sich ohne seinen Körper nicht denken. Die Menschenwürde ist daher mit der Körperlichkeit verknüpft. Daraus ergibt sich ein Recht, im Sterben in Ruhe gelassen zu werden und nicht als hirntote Ressource für verwertbare Organe weiterbeatmet zu werden.
Die Mensch bleibt Mensch, auch wenn er hirntot ist
Eine Organspende ist ein wunderbarer und bewundernswerter Akt menschlicher Solidarität; sie ist der Inbegriff von Solidarität und praktizierter Nächstenliebe. Das Wort „Organspende“ signalisiert Freiwilligkeit. Eine Spende muss freiwillig sein und bleiben. Ein Nicht-Widerspruch gegen die Organentnahme – aus welchen Gründen auch immer – ist keine Spende mehr. Der Staat darf die Freiwilligkeit nicht per Gesetz simulieren und sie damit quasi zur Pflicht machen. Genau das geschieht mir der Widerspruchslösung. Sie ist eine ethische Perversion aus guter Absicht.
Ich bin ein großer Freund der Organspende, ich habe allergrößten Respekt vor jedem Spender – aber ich bin und bleibe ein Gegner der Widerspruchslösung. Ich halte ein solches Gesetz für heikel und gefährlich. Es ist falsch, diejenigen unter Druck zu setzen, die ihre körperliche Integrität auch im Sterben und im Tod gewahrt wissen wollen. Zur Entscheidungsfreiheit, die das Grundgesetz schützt, gehört auch die Freiheit eines Menschen, sich nicht mit seinem Tod zu einem vom Gesetzgeber vorgegebenen Zeitpunkt befassen zu müssen – um dann gegebenenfalls Widerspruch einzulegen.
Die Widerspruchslösung zwingt jeden Menschen genau dazu. Er muss sich dann vor Augen halten, dass ihm gegebenenfalls die Augen entnommen oder sein Herz herausgelöst wird. Wenn man sich selbst als Spender denken soll, hat man solche Bilder im Kopf. Darf mich der Staat zum Transplantationsobjekt machen, weil ich es versäumt, mich geweigert oder es nicht verkraftet habe, mich mit meinem eigenen Tod zu befassen, mir meinen eigenen sterbenden oder lebensunfähigen Körper vorzustellen? Darf der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen an sich ziehen, weil dieser Mensch sich nicht klar genug geäußert, also nicht ausdrücklich widersprochen hat?
Der Mensch gehört nicht dem Staat, er gehört nicht der Gesellschaft, er gehört sich selbst. Und er bleibt Mensch, auch wenn er hirntot ist. Der hirntote Mensch wird nicht zu einer quasi herrenlosen Sache. Die geplante Widerspruchslösung lebt von der Passivität der Menschen. Einem Schweigen zu einer potenziellen Organentnahme nach dem Hirntod wird mit dieser Lösung eine extrem weitreichende Bedeutung gegeben.
Man stelle sich einmal eine solche Widerspruchslösung nicht für Organe, sondern Haus- und Grundbesitz vor – weil damit der Wohnungsknappheit abgeholfen werden soll. Stellen wir uns vor, es würde deshalb geplant, Wohnungen beim Tod des Eigentümers automatisch an den Staat fallen zu lassen, wenn kein ausdrücklicher Widerspruch vorliegt. Wem das unvorstellbar erscheint, der muss sich fragen, warum er sich das für seine Organe vorstellen soll.
Das mangelnde Vertrauen in das Transplantationssystem
Die Widerspruchslösung ist in vielen europäischen Ländern schon Gesetz. Gutheißen und kopieren muss man das nicht. Es kann ja gut sein, dass die Menschen in anderen Staaten ihrem Transplantationssystem mehr trauen als hierzulande. Der Transplantationsskandal von 2012 ist in schlechter kollektiver Erinnerung. Mediziner hatten, so die Vorwürfe, Krankenakten gefälscht, um ausgewählte Patienten bevorzugt mit Spenderorganen zu versorgen.
In den USA ist es so, dass man bei der Führerscheinprüfung automatisch gefragt wird, ob man spendenbereit ist. Bei positiver Antwort wird auf dem Führerschein gut sichtbar ein kleines rotes Herz abgebildet. Der Bedarf an Organen wird gleichwohl auch in den USA nicht annähernd gedeckt werden. Man kann noch mehr aufklären, man kann noch mehr werben, man kann für Vertrauen werben. Man muss sich trotzdem damit abfinden, wenn die Zustimmung zur Organspende gleichwohl nicht so steigt, wie man sich das wünscht.