Wie die Hoffnung aus dem Nahen Osten verschwand und wie an ihre Stelle die Eskalation der Gewalt trat. Wo sind die Knotenlöser?
Von Heribert Prantl
Es gibt Tage, an denen ist die Flut der Gewalt höher denn je, da ist sie aberwitzig hoch, da verschlingt sie auch noch die letzten Mikrogramme Humanität. So ein Tag war der 7. Oktober 2023. Morgen jährt sich dieser Tag, an dem die Hamas mit grenzenloser und sorgfältig berechneter Grausamkeit in Israel einfiel, morgen jährt sich dieses Massaker: Die Täter haben tausendfach gemordet und vergewaltigt, sie haben die Gräueltaten mit Bodycams und Helmkameras gefilmt und diese Filme in rasender Eile ins Netz gestellt und die Angehörigen der Opfer damit grausam gequält. Morgen, am 7. Oktober, jährt sich das Massaker der Hamas. 1139 Menschen in Israel wurden getötet, mehr als 5400 verletzt und 250 als Geiseln nach Gaza verschleppt, viele von ihnen sind mittlerweile auch tot. Ein Jahr später sehen wir die Folgen der grässlichen Tat; der Nahe Osten steht in Flammen.
Dabei war schon so viel Hoffnung, so viel. Ich sehe das große Hoffnungsfoto noch vor mir: Der Palästinenserpräsident Jassir Arafat und der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin schütteln sich vor dem Weißen Haus in Washington die Hände. Dahinter, in der Mitte zwischen beiden, steht mit väterlich ausgebreiteten Armen der US-Präsident Bill Clinton. Das ist 31 Jahre her. Es ist das Foto, das zu dem Satz von Rabin gehört: „Es ist genug Blut, es sind genug Tränen geflossen. Genug!“
Beten um Versöhnung
Auf dieses Foto folgt ein Jahr später das Bild von der Verleihung des Friedensnobelpreises an Arafat, an Rabin und seinen Außenminister Schimon Peres. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Und als dann vor 29 Jahren in Washington das Oslo-II-Abkommen gefeiert wurde, mit dem den Palästinensern Autonomie eingeräumt wurde, hielt Rabin diese Rede: „Hier stehen wir vor Ihnen, Männer, die vom Schicksal und der Geschichte auf eine Friedensmission geschickt wurden: einhundert Jahre Blutvergießen für alle Zeiten zu beenden. … Wir alle lieben dieselben Kinder, weinen dieselben Tränen, hassen dieselbe Feindschaft und beten um Versöhnung. Der Frieden hat keine Grenzen.“
Man bekommt Gänsehaut bei diesen Sätzen. Es fröstelt einen, weil man weiß, wie schnell dann der Frieden Grenzen fand und wie unendlich weit weg er heute ist. Eine Biografie über Rabin trägt den Titel: „Als Frieden noch möglich schien“. Diese Möglichkeit wurde am Abend des 4. November 1995 bei einer Friedenskundgebung in Tel Aviv erschossen. Sie stand unter dem Motto: „Ja zum Frieden, Nein zur Gewalt“. Ein rechtsextremer, fanatisch-religiöser israelischer Jurastudent erschoss den israelischen Ministerpräsidenten Rabin – und den Friedensprozess. Rabins Rolle als Streiter für den Frieden blieb bis heute vakant. Es ist, als sei damals mit Rabin auch Sisyphos erschossen worden, der Sisyphos des Nahen Ostens – ein Sisyphos, der in der Lage gewesen war, den Stein nicht nur und immer wieder auf den Berg zu ziehen, sondern den Stein dann auch, oben auf dem Gipfel, zu fixieren, zu behauen und ihm eine gute Form zu geben.
Gewalt und Gegengewalt, Gegengegengewalt und Gegengegengegengewalt
An die Stelle eines Friedensprozesses trat der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, von Gegengegengewalt und Gegengegengegengewalt. Das jüngste Terrorjahr, das vor einem Jahr begonnen hat, ist ein ungeheuer brutales Exempel. Die gordische Situation im Nahen Osten zeigt, wie Gewalt funktioniert – so nämlich, dass man den immer dickeren, immer größeren Knoten nicht einmal mehr durchschlagen kann. Der Knoten ist so viel größer als das Schwert. Vom israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin stammt der Satz: „Verhandlungen führen, als gäbe es keinen Terror.“ Der Satz hat sich mir eingebrannt, und er ist mir nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 immer wieder durch den Kopf gegangen – weil er klingt wie das anspruchsvollste der zehn Gebote . . . und weil er paradox weitergeht, nämlich so: „. . . und den Terror bekämpfen, als gäbe es keine Verhandlungen.“ Gilt das noch? Es muss gelingen, die unaufhörliche Potenzierung von Anschlag und Vergeltung zu beenden; das große Schlachten in Nahost birgt auch die Gefahr, dass Israel, bei all seiner militärischen Stärke, darin untergeht.
Schmerz und Trauer, Atmen und Aufatmen
Der Frieden braucht keinen neuen Alexander den Großen, der einst den Knoten durchschlagen haben soll; er braucht einen politischen Knotenlöser. Und er braucht die Menschen, die an die Idee von einer gemeinsamen israelisch-arabischen Union glauben. Der Frieden braucht den befriedenden Dialog. Exemplarisch dafür ist die Korrespondenz zwischen dem Orientalisten und muslimischen Deutsch-Iraner Navid Kermani und dem Soziologen und jüdischen Israeli Natan Sznaider. In einem Büchlein, das sie vor einem Jahr gemeinsam im Verlag Hanser veröffentlichten (es heißt schlicht „Eine Korrespondenz“), stellen sie fest: „Wir erinnerten uns an die wirklichkeitsschaffende Kraft der Gewalt, die nur noch Schmerz und Trauer hinterlässt, aber auch daran …, dass man selbst in der Sprachlosigkeit noch sprechen kann, und sei es ohne Worte. Sei es nur, dass man den anderen atmen hört.“ Wann wird aus dem Atmen wieder ein Aufatmen?