In einer Gruft der Stiftskirche ruht ein Feldherr aus dem Dreißigjährigen Krieg. Beendet wurde dieser durch Diplomatie – solche Diplomaten würde man sich auch heute wünschen.
Von Heribert Prant
Altötting, auf Bairisch „Oideding“, ist ein berühmter Wallfahrtsort neunzig Kilometer östlich von München. In Oideding lebt der Tod. Auf der Schrankuhr neben dem Nordportal der dortigen Stiftskirche steht er und mäht: ein Sensenschlag – und zack, ein Mensch sinkt weg; wieder ein Sensenschlag, der nächste; zack und zack und zack, mit ununterbrochener Unerbittlichkeit, seit schier ewigen Zeiten. Das Gerippe ist eine Skulptur aus dem 17. Jahrhundert, der Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
An der Art, Kriege zu führen, hat sich viel geändert seitdem. Am Ergebnis nichts: Zack und zack und zack. So ist das heute in der Ukraine. So war das damals in Deutschland. Am Beginn des Dreißigjährigen Krieges lebten 18 Millionen Menschen in Deutschland, an dessen Ende nur noch elf Millionen. Am Samstag haben wir in dieser Kirche, in der der Tod mahnt und mäht, die Trauermesse gefeiert für den verstorbenen Kollegen Hermann Unterstöger, den Streiflichtautor der Süddeutschen Zeitung.
Es ist dieser Ort auch eine Erinnerung an meine Kindheit: Ich war noch ein kleiner Bub, als mir mein Vater genau dort, in der Altöttinger Stiftskirche, zum ersten Mal den Tod gezeigt hat – nicht nur den, der dort als künstliches Gerippe von einem Uhrwerk in Bewegung gehalten wird; sondern auch den, der dort in der Tilly-Gruft liegt. Mit einiger Scheu stand ich als Kind vor dem kupfernen Sarkophag und sah durch ein kleines Glasfenster auf den Totenschädel des katholischen Feldherrn aus dem Dreißigjährigen Krieg: Johannes T’Serclaes von Tilly, Nachfolger Wallensteins, oberster Heerführer sowohl der Katholischen Liga als auch, ab 1630, der kaiserlichen Armee.
Wo der Tod mahnt und mäht
„Hier ruht nach Kriegen in Frieden“ steht, auf Latein und in goldenen Lettern, über seinem Sarg, der in den ausliegenden Beschreibungen „Prunksarkophag“ heißt. Der in Frieden Ruhende war, unter anderem, 1631 verantwortlich für die „Bluthochzeit“, also für die furchtbare Verwüstung und völlige Zerstörung der protestantischen Stadt Magdeburg. „Magdeburgisieren“ blieb dann für lange Zeit ein Synonym und Schreckenswort für grausame Auslöschung. Tilly, ein tiefgläubiger Mensch, war der Tod für Tausende, für Zehntausende Menschen. Weil vor seinem Sarg damals, als ich Kind war, verschlissen und wenig eindrucksvoll eine alte Kriegsfahne hing, sagte mein Vater, dass der weltliche Ruhm vergänglich sei.
Vor der Totenmesse für den verstorbenen Kollegen Unterstöger habe ich jetzt die Tilly-Gruft wieder besucht. Die verschlissene Fahne hängt nicht mehr dort. Dafür findet sich am Gitter vor der Gruft ein Zettel: „Steile Treppe. Betreten auf eigene Gefahr.“ Vielleicht passt das besser. Tilly ist, mitten im Mähen und Morden, im Jahr 1632 gestorben. Der Dreißigjährige Krieg ging noch 16 Jahre weiter. Beendet haben ihn nicht Feldherren, sondern Diplomaten.
Was Diplomatie vermag
Man wünscht sich, dass es auch heute solche Diplomaten gäbe – Diplomaten wie damals Alvise Contarini, der als „weltweiser Venezianer“, wie Golo Mann ihn nannte, mit mühseligsten Verhandlungen den Dreißigjährigen Krieg beendete. Der Westfälische Friede von 1648, der Friede von Münster und Osnabrück, gilt als sein Werk. Während der fünfjährigen Friedensverhandlungen waren die Kämpfe der damaligen Großmächte weitergegangen. Der Diplomat Contarini ist dann 1651 gestorben, drei Jahre nach seinem Friedensschluss und 19 Jahre nach dem Feldherrn Tilly.
Der Dreißigjährige Krieg war ein als Konfessionskrieg getarnter Staatenbildungskrieg. Für die Habsburger in Wien und in Madrid, für die französische Krone in Paris und für König Gustav Adolf in Stockholm ging es um ihre Großmachtprojekte, um die Vormachtstellung in Europa. Es gab lange bei keiner der Kriegsparteien einen Friedenswillen, dafür ungeheuer viel Misstrauen und wenig Gesprächsbereitschaft – und selbst die musste erst durch Gespräche hergestellt werden. Es war dies das Geschick des Diplomaten Contarini, der in seinem Wappen die bezeichnende Devise trug: „Non ad perniciem“ – nicht bis zum Untergang. Sein Erfolg als Mediator wurde begünstigt durch eine totale Erschöpfung der Ressourcen der Kriegsparteien.
So groß wie damals ist die Erschöpfung im Ukrainekrieg noch nicht. Aber dafür ist, anders als damals bei den Verhandlungen in Münster und Osnabrück, lupenrein klar, wer der Aggressor ist. Vor gut 375 Jahren verzichtete man auf eine Debatte über die Kriegsschuld schon deswegen, weil sie schwer zu klären war. Im Fall des Ukrainekriegs kann man deswegen auf sie verzichten, weil die Schuldfrage völlig klar ist. Deswegen kommt auch eine umfassende Amnestie, wie sie zum Friedensschluss von 1648 gehörte, nicht in Betracht.
Kommunikative Beschleunigung
Gleichwohl ist aus dem Westfälischen Frieden einiges zu lernen: Zu lernen ist, dass aus Aussichtslosigkeit Aussichten werden können. Zu lernen ist, dass Gesprächsbereitschaft wachsen kann bei Staaten und Mächten, die zu Gesprächen eigentlich nicht bereit sind. Zu lernen ist, dass Diplomatie sogar bei fortwährendem Krieg einen Frieden herbeiverhandeln kann.
Das waren, das sind Gedanken an einem Ort, an dem der Tod zu Hause ist. Man wünscht sich, dass an die Stelle der kommunikativen und der militärischen Brandbeschleunigung, die die Gegenwart des Ukrainekriegs kennzeichnet, eine kommunikative Beschleunigung von Friedensverhandlungen tritt.
