Sie sind der wichtige Versuch, den Wahlkampf neu auszurichten. Nationalismus ist keine unausweichliche Naturgewalt, die Zukunft ist formbar. Und Themen gäbe es genug.

Von Heribert Prant

Warum sind die Großdemonstrationen gegen den Rechtsextremismus so wichtig? Weil sie Stopp-Schilder aufstellen, weil sie den Wahlkampf mitgestalten, weil sie die Zukunft prägen. Die bedrohlichen politischen Irrlehren der Gegenwart, also der populistische Extremismus und der aggressive Nationalismus – sie sind keine Naturgewalten, sie sind nicht zwangsläufig, sie kommen nicht einfach unausweichlich. Es gibt keine Zukunft, von der man sagen könnte, dass es sie einfach gibt, dass sie einfach über uns kommt.

Zukunft ist nichts Feststehendes, nichts Festgefügtes. Zukunft kommt nicht einfach; es gibt nur eine Zukunft, die sich jeden Augenblick formt: je nachdem, welchen Weg eine Gesellschaft wählt, welche Entscheidungen die Menschen treffen, welche Richtung sie einschlagen, welche Forderungen sie unterstützen und welche sie ablehnen. Die Zukunft ist nicht geformt, sie wird geformt. Die Frage ist nicht, welche Zukunft man hat oder erduldet, die Frage ist, welche Zukunft man haben will und wie man darauf hinlebt und hinarbeitet. Demonstrationen gehören zu dieser Arbeit.

Aus AfD-Zutaten gerührt, nach AfD-Rezept gebacken

Sie sind der wichtige Versuch, den Wahlkampf auf den letzten Metern neu zu inszenieren und zu dirigieren. Dieser Wahlkampf des Jahres 2025 ist einer, wie ich ihn in meinem journalistischen Leben noch nicht erlebt habe. Es ist ein Wahlkampf, der so tut, als gäbe es kein anderes Thema außer Asyl und Migration. Dem Fünf-Punkte-Migrationsplan des Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, aus Zutaten der AfD gerührt und dann nach AfD-Rezept gebacken, ist es gelungen, den Wahlkampf zu monopolisieren und den Eindruck zu erwecken, die Umsetzung einer Reihe von extremen und extremsten Forderungen sei der Schlüssel zur Lösung der wichtigsten Probleme in Deutschland. Das Gegenteil ist richtig.

Exemplarisch lässt sich das zeigen an folgender Merz-Forderung, die üblicherweise nur in verkürzter Darstellung wiedergegeben wird, aber ungeheuerlich ist: „Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden. Die Anzahl an entsprechenden Haftplätzen in den Ländern muss daher signifikant erhöht werden.“

In den Diskussionen wird bisweilen so getan, als seien damit nur Straftäter gemeint. Aber das stimmt nicht. „Vollziehbar ausreisepflichtig“ sind in Deutschland (zum Stichtag 31. Dezember 2024) 220 808 Menschen; zu den vollziehbar Ausreisepflichtigen zählen nämlich auch alle Personen mit einer sogenannten Duldung, darunter sind solche, die schon Jahrzehnte in Deutschland leben und arbeiten oder eine Ausbildung machen, sogar solche, die hier geboren wurden. Zu diesen Ausreisepflichtigen zählen nicht nur abgelehnte Asylbewerber, sondern auch Menschen im sogenannten Overstay, also zum Beispiel Studierende, Arbeitnehmer oder Touristen, deren Visum abgelaufen ist. Die Duldung kann darauf basieren, dass die Ausreise zwar rechtlich, aber nicht faktisch vollziehbar ist, zum Beispiel wegen der Zustände, die im Heimatland herrschen, oder wegen einer gravierenden Erkrankung.

Eine irrwitzige Verhaftungswelle?

Wörtlich genommen bezieht sich also die Haftdrohung im Merz-Migrationsplan auf all diese Menschen. Und dann folgt, wie das gehen soll: „Der Bund wird die Länder dabei unterstützen und schnellstmöglich alle verfügbaren Liegenschaften, darunter leer stehende Kasernen und Containerbauten, zur Verfügung stellen.“ Der Eifer der CDU-Wahlkämpfer bezieht sich also nicht, wie es angesichts der dramatischen Situation auf dem Wohnungsmarkt geboten wäre, auf den Bau von Sozialwohnungen, sondern auf den Bau von Haftplätzen. Leer stehende Kasernen sollen nicht in Wohnungen, sondern in Knäste verwandelt werden.

Wer dies fordert und so formuliert („vollziehbar Ausreisepflichtige müssen unmittelbar in Haft genommen werden“), hat entweder keine Ahnung von der Materie oder ist im Rechtsextremismus zu Hause. Und selbst wenn mit den unmittelbar zu verhaftenden Personen „nur“ diejenigen gemeint sein sollten, die ihre Duldung nicht verlängert haben (sogenannte „unmittelbare Ausreisepflichtige“), wären das 43 200 Menschen – und es ginge eine irrwitzige Verhaftungswelle durch das Land; man bräuchte allein für sie eine Zahl von Abschiebehaftplätzen, die sechzig Prozent der gesamten derzeitigen Gefängniskapazitäten in Deutschland ausmachen. Wer soll das bezahlen? Woher soll das Personal kommen?

Solche Forderungen des Merz-Migrationsplans sind also entweder kenntnislos, leichtfertig oder aberwitzig gefährlich. Es wäre gut, wenn die Wahlkampfsendungen der zwei nächsten Wochen noch Seriosität, Praktikabilität, Lebenstauglichkeit, Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit in den Wahlkampf pumpen könnten. Brachliegende Themen gäbe es genug: die Lebensmittel- und die Energiepreise, den unbefriedigenden Zustand der Schulen und Bildungseinrichtungen, die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt, den brachliegenden sozialen Wohnungsbau. Wer den Wahlbrief der CDU liest, wundert sich: 2024 war das heißeste Jahr seit der Wetteraufzeichnung. Wir sind auf dem Pfad zu drei Grad Erderwärmung mit katastrophalen Folgen für die Menschheit. Und im CDU-Wahlbrief von der CDU steht davon kein Wort.

Warum geht es im Wahlkampf nicht um Grundrechte für Pflegebedürftige?

Und in keinem Wahlbrief, in keiner Wahlsendung werden die zum Teil trostlosen, miserablen und desaströsen Verhältnisse in der Pflege alter Menschen thematisiert. Im Jahr nach dem großen Grundgesetzjubiläum wäre es vielleicht angebracht, Grundrechte für eine alternde Gesellschaft zu entwickeln, kleine große Grundrechte, die den pflegebedürftigen alten Menschen zur Seite stehen.

Das erste Gebot könnte so aussehen: Jeder pflegebedürftige Mensch muss seine Mahlzeiten in dem Tempo erhalten, in dem er sie kauen und schlucken kann. Das zweite Gebot: Jeder pflegebedürftige Mensch muss täglich so oft zur Toilette gebracht werden, wie er dies wünscht. Das dritte Gebot: Jeder pflegebedürftige Mensch muss täglich gewaschen und gekämmt werden. Ist das zu viel verlangt? Der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek hat schon vor Jahren solche Gebote formuliert.

Es wäre gut, wenn auch diese nur vermeintlich kleinen Dinge zu einem Wahlkampf gehörten – wenn also davon geredet würde, was für Millionen Menschen wichtig ist und was seltsam ausgespart bleibt im öffentlichen Diskurs. Es geht um die Würde der alten, der sehr alten und kranken Menschen. Im Jahr 2030 werden fünfeinhalb Millionen Menschen besondere Fürsorge brauchen. Schon heute fehlen mindestens 200 000 Pflegekräfte. In einigen Pflegeheimen machen Pflegekräfte mit Migrationshintergrund bis zu vierzig Prozent des Personals aus.

Eine Kultur, die die Lebenszeit so sehr verlängert hat, muss noch viele Fragen gut beantworten, die damit einhergehen. Wenn das keinen Wahlkampf wert ist!


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