Vor fünfzig Jahren erhielt der Schriftsteller Heinrich Böll als erster Deutscher seit dem Ende des Nazireiches den Nobelpreis für Literatur. In seiner Rede äußerte er damals eine Warnung. Was man daraus für die Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine ziehen kann.

Von Heribert Prantl

In seiner Dankesrede hat Heinrich Böll gesagt, er sei durch einen „dichten Wald von deutschen Zeigefingern“ marschiert. Und „gar manche Zeigefinger waren scharf geladen“. Das ist jetzt ein halbes Jahrhundert her: Vor fünfzig Jahren nahm der Schriftsteller Heinrich Böll als erster Deutscher seit dem Ende des Nazireiches den Literaturnobelpreis entgegen. In den Jahrzehnten seitdem hat sich unendlich viel geändert, aber den Wald von scharf geladenen Zeigefingern gibt es immer noch. Man sieht und spürt sie, wenn über Waffenlieferungen für die Ukraine gestritten wird; wenn noch mehr Waffen gefordert werden – und wenn, in unterschiedlichen Betonungen, vom Gewinnen und Verlieren die Rede ist.

Kanzler Scholz sagt, dass Russland den Krieg nicht gewinnen darf. Außenministerin Baerbock kontert, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss. Und US-Präsident Biden erklärt, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf. Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat dazu Wichtiges und Richtiges gesagt: „Das Einzige, was gewonnen werden kann und wiedergewonnen werden muss, ist der Friede.“

Die Zukunft, ein bombentrichtergroßes Loch

Um den Frieden, was ihn bedroht und wie man ihn gewinnt, ist es Heinrich Böll zeitlebens gegangen. Darüber und dafür hat er geschrieben. Der Schlüssel zum Denken und Fühlen von Böll ist ein Roman, den Böll schon 1949/1950 geschrieben hat, der aber erst 1992, nach seinem Tod, erschienen ist. Er ist ein Werk voller Traurigkeit; er spielt 1945 in den Trümmern der kriegszerstörten Stadt Köln. Er beginnt am 8. Mai 1945.

Am 8. Mai 1945 kehrte der junge Soldat Hans Schnitzler heim in den Trümmerhaufen, der von der Stadt Köln übrig geblieben war. Die meisten Straßen waren nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmten sich bis zu den ersten Stockwerken der ausgebrannten Häuser, über einigen Straßenzügen hing noch der Qualm in dichten, schweren Schwaden. Aus manchen Geröllhalden waren schöne grüne Hügel geworden, auf denen Bäumchen wuchsen. Der Schriftsteller Böll begleitete Hans Schnitzler auf seinem Weg in die Keller der zerbombten Häuser, in Elendsquartiere, Notspitäler und zerstörte Kirchen; er folgte ihm bei seiner animalischen Jagd nach Brot, nach Kohlen, nach einem Mantel, nach einem trockenen Bett, nach Zigaretten und Liebe.

Der Roman, den Böll daraus machte, heißt: „Der Engel schwieg“. Wir lesen, wie Schnitzler die Stelle wiederfindet, an der das Miethaus stand, in dem er gewohnt hatte: „Vielleicht war es die Zahl der Schritte, die von der Straßenkreuzung noch zu gehen waren, oder irgendetwas in der Anordnung der Baumstümpfe, die einmal eine hohe und schöne Allee gebildet hatten; irgendetwas veranlasste ihn, plötzlich haltzumachen, nach links zu sehen, und da war es: Er erkannte den Rest des Treppenhauses, stieg über die Trümmer langsam dorthin; er war zu Hause.“

Zu Hause? Viele Heimkehrer hatten das Gefühl, dass es keine Heimat auf dieser Welt mehr gibt. Zu Hause – das waren Gestank, Schwarzmarkt, Hunger, Diebstahl, Faustrecht und Betrug. Im Inneren der Menschen setzte sich die äußere Verwüstung fort; die Zukunft war ein bombentrichtergroßes Loch. Es gab Überlebende wie Hans Schnitzler, die, überwältigt vom Sterben ringsum, die Toten beneideten und es nur allmählich wagten, das Leben, ihr Leben wieder anzunehmen. Und es gab die anderen, die mit dem abwaschbaren Gewissen, die politisch immer richtig liegen.

Ein gewaltig-friedlicher Streiter

Heinrich Böll war ein gewaltig-friedlicher Streiter gegen militärische Gewalt. Er wusste, dass man Hitler nicht wegbeten konnte. Er wusste, lange bevor Richard von Weizsäcker das sagte, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Er wusste aber auch, dass militärische Gewalt niemals den Frieden bringen kann: Militärische Gewalt kann und soll tödliche Bedrohung abwehren, sie kann und soll dem Unrecht Einhalt gebieten, sie kann und soll der Tyrannei ein Ende setzen. Das ist ihr einzig legitimer Zweck als ultima ratio.

So sagt es die schon zitierte Ratsvorsitzende der EKD, die als oberste Repräsentantin der Protestanten in Deutschland ähnlich denkt, wie der engagierte Katholik Heinrich Böll geschrieben hat: „So unzweifelhaft und eindeutig der verbrecherische Angriff der russischen Seite zuzuschreiben ist, so untröstlich müssen wir Christinnen und Christen sein und bleiben über alle Verletzten, über jeden Toten, über jede verwitwete Mutter, über jedes verwaiste Kind auf beiden Seiten. Das sind wir Gott und unserer eigenen Humanität schuldig.“ Unsere Diskussion müsse sich unterscheiden von der Logik machtvoller Überwältigung, bösartiger Unterstellung und hasserfüllter Abwertung derer, die anders denken.

Das ist die Warnung vor dem scharf geladenen Zeigefinger, wie Böll sie vor fünfzig Jahren in seiner Nobelpreisrede geäußert hat. Siegen? Verlieren? Frieden ist das Einzige, was zu gewinnen ist.


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