Und was Friedrich Merz vom verstorbenen Bundespräsidenten Horst Köhler lernen kann.

Von Heribert Prant

Horst Köhler war, wie Friedrich Merz, ein Mann der Wirtschaft und der CDU. Aber er war kein Ökonomie-Automat, und er hatte eine Eigenschaft, die dem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz fehlt und in der Horst Köhler als Staatsoberhaupt brillierte: Er war schelmisch, er war ein schelmischer Präsident. Deswegen mochten ihn die Menschen. Er war auf eine bisweilen etwas ungelenke Weise volkstümlich; er fremdelte ein wenig im Berliner Politikbetrieb, aber gerade das machte ihn im Volk beliebt – so beliebt, dass man ihn den „Präsidenten der Herzen“ nannte. Er war als Nachfolger von Johannes Rau der neunte Bundespräsident – und meine schönste Erinnerung an ihn ist die folgende:

Das „Meistersinger“-Vorspiel erklang. Es war beim Festakt zum 60. Jahrestag der hessischen Verfassung. Der Bundespräsident schritt zum Rednerpult und verharrte; er sammelte, so dachte man, seine Gedanken; doch Köhler ordnete nur die vielen Blätter seines Manuskriptes, die auf dem Pult ins Rutschen geraten waren. Und er lächelte sein fröhlich-schüchternes Lächeln, sagte Freundlichkeiten. Großer Applaus.

Sein fröhlich-schüchternes Lachen

Doch irgendetwas stimmte nicht: Seine Hände tasteten herum, sein Blick irrte umher. „Ich muss mich noch arrangieren“, sagte Köhler, beugte sich suchend unters Pult; und da war, auf Kniehöhe, die Rettung in Form einer Ablage: Zufrieden fuhr der Präsident nun mit der Rede fort. Den Papierstapel hielt er mit der rechten Hand fest; und wenn er mit dem Vorlesen einer Seite fertig war, nahm er sie in die linke Hand, macht eine kleine Kniebeuge und legte das Blatt nach unten auf die Ablage. Weil die Blätter jeweils nur mit wenigen Zeilen beschrieben waren, nahm Köhlers Knicksen fast kein Ende.

Im Jahr 2000 war Horst Köhler auf Vorschlag des damaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder zum Direktor des Internationalen Währungsfonds IWF bestellt worden, unternahm in dieser Zeit viele Afrikareisen und machte die Armutsbekämpfung zu seinem Anliegen. Als Bundespräsident blieb er ein großer Freund Afrikas. Das Land erlebte nun einen tastenden, suchenden, wippenden, einen weg- und wieder auftauchenden Präsidenten; es erlebte einen politischen Selbstfindungsversuch, einmal von schüchterner Unbeholfenheit, dann wieder von forscher Gangart: Es gab einen Köhler, der sich mit dem damaligen Kanzler Schröder anlegte und ihn, schriftlich und quasi mit Durchschlag an die Presse, vor der Verlegung des Nationalfeiertags warnte. Es gab den Köhler, der sich vergeblich als Schlichter im Föderalismus-Streit ins Gespräch brachte. Es gab einen Köhler, der sich immer wieder mit Warnungen in die Tagespolitik einschaltete.

Noch kein Kanzlerkandidat in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich so benommen wie der Sauerländer

Zum ersten Mal seit Heinrich Lübke (der in der ersten Amtsperiode von 1959 bis 1964 besser war, als ihm heute nachgesagt wird), versuchte ein Präsident wieder, die in der Verfassung verankerten Kompetenzen zu sprengen. Es war, als rüttele Köhler (der im Gegensatz zu all seinen Vorgängern zuvor nie Politiker gewesen war) nun als Präsident am Tor zur Politik: Ich will hier rein! Er machte das auf eine Art und Weise, die den Leuten gefiel. Das prägt die Erinnerung an den am Samstag im Alter von knapp 82 Jahren verstorbenen Ex-Präsidenten.

Köhler hatte als Präsident das, was Merz als Kanzlerkandidat fehlt: Bescheidenheit. Noch kein Kanzlerkandidat in der Geschichte der Bundesrepublik hat sich so benommen wie der Sauerländer. Noch keiner hat schon im Wahlkampf zu den ganz außerordentlichen künftigen Mitteln, zur Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers gegriffen; noch keiner hat schon als Kandidat protzerisch angekündigt, was er mit ihr anordnen wird: Gleich am ersten Tag seiner Kanzlerschaft will Merz per Richtlinienkompetenz umfassende Grenzkontrollen befehlen. Merz geriert sich als Wahlkämpfer fast so überheblich, wie es der neue US-Präsident vor seinem Amtsantritt getan hat. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte bezeichnet ihn daher als den „sauerländischen Trump“.

Seine eigenen Grandiositätsvorstellungen sind Merz wichtiger als die Sensibilitäten für die parlamentarische Demokratie. Es zeigt sich schon im Wahlkampf, dass Merz keine Regierungserfahrung hat. Er benimmt sich drei Wochen vor der Wahl so, als sei so etwas wie eine Koalitionsbildung nicht nötig, als brauche er keine Regierungspartner. Er geht nicht auf seine künftigen eventuellen Partner zu, sondern lässt sich von der AfD akklamieren – ohne sich dafür zu genieren. Er bricht mit all seinen Versprechungen, Gemeinsamkeit und Miteinander mit der AfD zu vermeiden. Er stößt die demokratischen Partner, die er im Fall seines Wahlsiegs zur Koalitionsbildung brauchen wird, auf diese Weise vor den Kopf.

Nicht rechts, nicht links?

Friedrich Merz ist vor drei Jahren Vorsitzender der CDU erst im dritten Anlauf geworden. Erst zog die Partei, es war 2018, Annegret Kramp-Karrenbauer an der Spitze vor. Dann wählte die Union, es war 2021, Armin Laschet. Dann erst kam, es war 2022, Friedrich Merz. Er war, ganz im Wortsinn, dritte Wahl. Nicht nur das hat Spuren hinterlassen. Dazu kommt, dass Angela Merkel ihn einst zu seiner Zeit als kurzzeitiger Fraktionschef im Bundestag abgesägt und abgelöst hat. Merz hat dann für eine lange Reihe von Jahren sein Feld außerhalb der Politik suchen müssen. Gregor Gysi, der viel Erfahrung mit dem Auf und Nieder in der Politik hat, vermutet, dass sich Merz von Merkel gedemütigt fühlt – und dass diese Demütigungen sein politisches Handeln bestimmen. Souverän ist das nicht.

Merz hat die Zustimmung der AfD nicht unbedingt gesucht, aber gefunden – und das billigend in Kauf genommen oder sich jedenfalls damit abgefunden. Es sei ihm „völlig gleichgültig“, wer seiner Antiflüchtlingsinitiative zustimmt; richtige Ideen würden nicht dadurch falsch, dass die „Falschen“ sie unterstützten. „Ich gucke nicht rechts und nicht links. Ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus.“ Das ist ein Wahlspruch, den er vom einstigen Kolonialoffizier Friedrich Hans Dominik abgekupfert hat: „Nicht rechts geschaut, nicht links geschaut, geradeaus, auf Gott vertraut und durch!“ Für die Zukunft der Politik im Bundestag ist solch ein Motto fatal – und es widerspricht allen früheren Ankündigungen von Merz.

Noch am 13. November 2024 hatte er im Bundestag erklärt, „dass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande“ kommen solle und dürfe. Und in die Partei hinein lauteten seine Worte so: „Wenn irgendjemand die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.“ Bei dem Antiflüchtlingsantrag von Merz in der vergangenen Woche kam nun erstmals eine parlamentarische Mehrheit durch die Unterstützung der AfD zustande. Das sieht aus wie eine erste Station auf dem Weg zu einer Zusammenarbeit – und das widerspricht allen Ansagen von Merz.

„Leitkultur“ und Abschaffung des Asyl-Grundrechts – Merz macht da weiter, wo er einst aufgehört hatte

Friedrich Merz macht da weiter, wo er im Jahr 2000 als damaliger Unionsfraktionschef begonnen hat; er macht auch so weiter, wie er damals aufgehört hat. Angefangen hat er damals mit der Forderung, das Asylgrundrecht abzuschaffen; er wollte es ablösen durch eine „institutionelle Garantie“. Und aufgehört hat er damals mit den Reden von den Tabus, die es nicht geben dürfe, und von der „deutschen Leitkultur“, die Migranten in Deutschland zu beachten hätten. Wenn man die heutigen Äußerungen von Friedrich Merz zum Migrationsrecht analysiert, sollte man ein Interview lesen, das er seinerzeit, im März 2000, in seiner ersten Zeit als Unionsfraktionschef gegeben hat. Er forderte damals dazu auf, sich in der Debatte ums Asylrecht von den Erfahrungen des Nationalsozialismus zu lösen: „Unsere Generation will sich nicht mehr derart in Haftung für unsere Vergangenheit nehmen lassen.“ So stand es damals in der Hamburger Zeitschrift Die Woche. Auch da werden ihm heute die AfDler zustimmen.

Die Lehren der vergangenen Jahrzehnte lauten: Anti-Ausländer- und Anti-Flüchtlings-Wahlkämpfe rechnen sich nicht für die demokratischen Parteien, die sie anzetteln. Es gibt da nur eine Ausnahme: Die Landtagswahlen in Hessen im Februar 1999, die von der CDU des Roland Koch mit der Agitation gegen die Doppelstaatsbürgerschaft gewonnen wurde. Darauf mag sich Merz damals wie heute beziehen. Es besteht da aber für ihn die Gefahr, dass er verkocht. Womöglich beginnt dieser Prozess schon am 23. Februar.


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