Das Kapital hat gesiegt, aber nicht recht: Das Vermächtnis des Sozialphilosophen Oskar Negt.
Von Heribert Prantl
Die Arbeitswelt hat sich grundlegend geändert seit den Gründungstagen der SPD. Seitdem die Arbeit ihre Kraft verliert, seitdem immer weniger Menschen zur Herstellung eines Produkts benötigt werden – seitdem scheint der große Kampf zwischen Arbeit und Kapital am Ende zu sein. Das Kapital hat gesiegt; damit hat es zwar nicht recht; aber: um noch reicher zu werden, braucht es die Arbeit immer weniger. Und die Arbeit, die er noch braucht, will sich der Kapitalismus auf der ganzen Welt preiswert aussuchen. Arbeitskraft ist nicht mehr nur lokal, sondern immer öfter global austauschbar.
Das Kapital mag daher die Rücksichten nicht mehr nehmen, die es ein Jahrhundert lang genommen hat; das System läuft ja auch so, es läuft ohne solche Rücksichtnahmen, genannt Sozialpolitik, vermeintlich noch besser. Das Kapital hat, von Grenzen befreit, seine eigenen Märkte gefunden, es setzt auf Gewinne durch Spekulation, auf Handel mit sich selbst, auf das Gegeneinander-Ausspielen von Standorten, auf Rationalisierung und auf Entlassungen. Rationalisierung ist die Rückbeförderung des arbeitenden Menschen in die Unmündigkeit. Der Kapitalismus funktioniert, so sagt es der Sozialphilosoph Oskar Negt, zum ersten Mal in seiner Geschichte so, wie es Karl Marx beschrieben hatte: Die Gesellschaft wird zum Anhängsel des Marktes. Dagegen hat sich Oskar Negt sein Leben lang gestemmt.
Vom Arbeiterkaiser zum Arbeiterprofessor
Oskar Negt ist im Alter von 89 Jahren in Hannover gestorben; soeben hat für ihn dort die Trauerfeier stattgefunden. Er war ein öffentlicher Intellektueller, völlig frei von Schnöseligkeit, Überheblichkeit und Arroganz, er war jahrzehntelang ein Vordenker der Gewerkschaften, er war Gewerkschaftslehrer, er war Demokratiepädagoge. In den frühen Tagen der Sozialdemokratie war August Bebel der „Arbeiterkaiser“. Mehr als hundert Jahre später, in den Zeiten also, als die SPD eine große Volkspartei war, war Oskar Negt ein Arbeiterprofessor.
Lernen, Mitreden, Mitbestimmen – das war schon Bebels Devise gewesen. In seinem Buch „Der politische Mensch“ aus dem Jahr 2010 formulierte es Negt so: „Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss – immer wieder, tagtäglich und bis ins hohe Alter hinein. Ich suche nach Antworten auf die Frage, warum Menschen unter bestimmten Bedingungen ihren politischen Verstand verlieren und andere politische Urteilskraft zeigen und praktizieren – unter Umständen sogar unter Einsatz ihres Lebens.“
Die alten Griechen nannten den Rückzug ins Private „Idiotie“, der unpolitische Mensch war der Idiot. Politische Bildung verhindert den Rückzug ins Private, politische Bildung verhindert die Pervertierung von Politik. Das war Oskar Negts Credo. Deswegen hat er vor über fünfzig Jahren, es war 1972, mit einer Initiativgruppe von gewerkschaftlich organisierten Eltern, Hochschullehrern und Pädagogen die Glocksee-Schule gegründet, die, hoch angesehen, eine der wenigen erfolgreichen Alternativschulen in Deutschland wurde.
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Der rote Faden, das rote Band im Leben des Oskar Negt war seine Nähe zu den Gewerkschaften, die Nähe zur sozialen Realität in den Betrieben, zur lebendigen Arbeitswelt. Er war Gewerkschafts- und Politikberater. Als Gewerkschaftsberater war er sehr erfolgreich, als Politikberater nicht so sehr. Oskar Negt hat selbst die ernüchternden, ja tragischen Erfahrungen beschrieben, die frühere philosophische Politikberater gemacht haben. In der Antike war es Platon, der nach Syrakus zum Tyrannen Dionysos I. ging, um seine Gesellschaftsutopie zu verwirklichen. Das Experiment scheiterte, Platon landete auf dem Sklavenmarkt und musste von einem seiner Schüler freigekauft werden. Da erging es Oskar Negt als Berater des SPD-Kanzlerkandidaten und Kanzlers Gerhard Schröder noch vergleichsweise gut: Er wurde nicht in die Sklaverei verkauft, sondern nur maßlos enttäuscht.
Was die Menschen in einer Demokratie brauchen
Es war so: 1998 ergriff Oskar Negt Partei für den SPD-Kanzlerkandidaten Schröder und wurde einer seiner Berater. Etwas Gutes im Sinne Negts hat sich aber dann daraus nicht entwickelt, im Gegenteil. Negts Utopien über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft erlebten nämlich auf dem Weg von seinem Lehrstuhl in Hannover ins Schrödersche Kanzleramt eine albtraumhafte Mutation.
Negt wollte zwar die gute Motivation Schröders für die Agenda 2010 und die Hartz-IV-Reform nicht infrage stellen; aber was daraus dann wurde, galt ihm als die „absolute Katastrophe“: Die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie brauchen, so seine Überzeugung, Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte ökonomische Existenz, sie müssen frei sein von der Angst um die eigenen Lebensverhältnisse. Deshalb hielt Oskar Negt solche Reformen, die Langzeitarbeitslose auf eine Rutsche in die Armut setzen, für undemokratisch.
Die Arbeit für die Gemeinschaft muss den Rang bekommen, der ihr gebührt
In der Tat: Nur eine vitale Gesellschaft hat die Kraft, die große Wende in der Arbeitswelt einzuleiten, in der nicht mehr allein Kapital und Markt definieren, was als Arbeit zu verstehen ist. Ein Blick in die Kindertagesstätten, in die Alters- und Pflegeheime, in die Krankenhäuser und Schulen lehrt: Dort gibt es Arbeit in Hülle und Fülle. Es gibt unendlich viel Arbeit, die Gemeinschaft stiftet, die inneren Frieden bewirkt – Gemeinwesenarbeit, die chronisch unterbezahlt ist. Die Arbeit für die Gemeinschaft muss den Rang bekommen, der ihr gebührt.
Politik im demokratischen Prozess war für Oskar Negt „Sinnverwirklichung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens“. Und im Zuge dieser Sinnverwirklichung plädierte er zum Beispiel für eine „bewusste Steuerung der Reichtumsverteilung“, um dem Gemeinwesen neue Mittel zuzuleiten und so neue Arbeitsplätze zu finanzieren. Der Markt sei, so Oskar Negt, nicht imstande, eine würdige und sinnvolle Gesellschaft zu organisieren. Dieser Satz gilt über den Tod von Oskar Negt hinaus. Er ist sein Vermächtnis. Christian Lindner sollte ein wenig Negt lesen.