Alle Macht geht vom Volke aus. Aber wo geht sie hin? Mit Zustimmung des Volkes nach Brüssel und Straßburg! Die Europäische Union braucht einen demokratischen Schub. Der beginnt mit einer Volksabstimmung.

Von Heribert Prantl

Es ist nicht überliefert, was einst der göttliche Zeus der schönen Königstochter namens Europa nach der Entführung zum Essen aufgetischt hat. Wovon sich Europa, wovon sich die Europäische Union heute ernährt, ist offenkundig: von den Mitgliedsländern. Jeder Staat gibt Souveränitätsrechte ab und füttert damit die EU. Anders geht es nicht, denn von nichts kommt nichts. Der Verzicht der Staaten auf Portionen eigener Staatlichkeit liegt in der Natur der Sache. So entsteht Europa – und so ist es gut.

Dagegen ist auch aus der Sicht des Grundgesetzes nichts einzuwenden, jedenfalls nicht, solange der Kern deutscher Staatlichkeit davon nicht berührt wird. Wenn es so, wenn es also, wie man so sagt, ans Eingemachte geht, dann müsste vorher das Volk gefragt werden. So steht es auf der letzten Seite des Grundgesetzes, im Artikel 146, dann müssten die Wählerinnen und Wähler darüber entscheiden, ob das Eingemachte an die Europäische Union abgegeben werden darf. Wann ist es so weit?

Das ist die Frage, um die die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts seit 1993, seit ihrer Entscheidung über den Maastricht-Vertrag, herumschleichen. So war es auch in der vergangenen Woche wieder, als über den gigantischen Corona-Hilfsfonds verhandelt wurde – „das größte Konjunkturpaket aller Zeiten“, wie es genannt wurde. Umfang: 750 Milliarden.

Zu gefährlich?

Es ist wohl längst so weit. Es war schon so weit, als das Bundesverfassungsgericht zum Maastricht-Vertrag entschieden hat; es war so weit, als es zum Lissabon-Vertrag entschieden hat; es war so weit, als es über den Euro-Rettungsschirm entschieden hat; es war so weit, als es über die Anleiheankäufe der Europäischen Zentralbank entschieden hat; und es ist jetzt so weit beim gigantischen Corona-Hilfsfonds. Es ist immer so weit, weil die Linie hin zum Artikel 146, hin zum notwendigen Plebiszit schon lang überschritten ist. Aber man hat sich an die Überschreitung im Interesse der Sache gewöhnt, weil ein Plebiszit als zu gefährlich erachtet wird. Das war schon vor dreißig Jahren beim Maastricht-Vertrag so; und das ist immer noch so. Das ist deswegen ungut, weil man so tut, als könne der Europäische Einigungsprozess nicht überzeugen.

Im Brunnen vor dem Tore – ist kein Wasser mehr

Der Brunnen und der Lindenbaum gehören zu den schönsten Bildern und Chiffren des deutschen Liedguts. Nehmen wir also den Brunnen vor dem Tore, um die Dinge zu erklären. Man mag sich das Grundgesetz wie einen großen, tiefen Brunnen vorstellen. Daraus ist nun lang geschöpft worden, um das Europäische Haus zu bauen. Aber: Der Brunnen ist ausgeschöpft, der Eimer taucht nicht mehr ein, er scheppert und kratzt am Boden. Das Gericht in Karlsruhe scheppert bisweilen mit dem Eimer recht laut, es zieht ihn ein Stück hoch und lässt ihn wieder fallen. Das knallt dann; aber mehr Wasser kommt auf diese Weise auch nicht in den Brunnen. Das heißt: Wer mehr Europa will, der muss mehr Europa ins Grundgesetz schreiben. Es muss eine neue Quelle erschlossen werden.

„Das Gesetz ist klüger als der Gesetzgeber“, sagt ein geflügeltes Wort; es stammt von Gustav Radbruch, dem großen Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Das Wort soll sagen, dass mit einem Gesetz auch Dinge geregelt werden können, an die der Gesetzgeber noch gar nicht gedacht hatte. Das Grundgesetz ist ein besonders kluges Gesetz. Es hat die Bundesrepublik sei 1949 wunderbar begleitet, es hat das Land stark und einigermaßen friedlich gemacht, den Weg zum Wiederaufbau und zur Wiedervereinigung bereitet. Es hat die europäische Integration ermöglicht, den Euro auch. Als das Grundgesetz entstand, lag das Land in Trümmern. Es gab keine Nato, keine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, und eine Europäische Union war allenfalls ein Traum. Die Deutschen haben die juristische Kraft für all dies aus dem Grundgesetz schöpfen können – auch deswegen, weil es dort den feierlichen Wunsch der Präambel gibt (der später durch Artikel 23 verstärkt wurde): „Als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“

Dieser Wunsch muss verfassungsrechtlich verstärkt und ausgebaut werden – mit einem Europa-Plebiszit.

 


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