Das brächte eine gewisse Berechenbarkeit in die deutsche Politik zurück. Die ist bitter notwendig in Zeiten der globalen Unberechenbarkeit. Mit einer Wiederwahl von Trump könnte sie krasse Ausmaße annehmen.

Von Heribert Prant

Eine Regierungskoalition sollte ein Bündnis auf Gedeih sein. Lindner macht daraus ein Bündnis auf Verderb. Lindner potenziert den Frust in der Bevölkerung über die Bundesregierung, Lindner sorgt für ein weiteres Erstarken von AfD und BSW. Die Ultimaten, die der Bundesfinanzminister und FDP-Chef Lindner alle paar Tage der Regierung Scholz stellt, der er selbst angehört, die spektakelhaften Inszenierungen seiner Person und seiner Forderungen – all das ist schwer erträglich.

Es ist eine Qual, dies anhören und anschauen zu müssen. In den vergangenen Wochen hat Lindner immer mehr Stücke aus dem Koalitionsvertrag des Jahres 2021 herausgerissen, der durchaus ein Vertrag des Aufbruchs gewesen war. Lindner ist vertragsbrüchig geworden. Und er hat sich als unfähig erwiesen, das Land in schwierigen Zeiten zu stabilisieren.

Das erinnert an den November 2017, als Lindner, auch damals schon FDP-Chef, die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP platzen ließ. Er enttäuschte damals auf ziemlich brutale Weise die Hoffnungen auf eine Alternative zur großen Koalition, auf eine neue Regierungskonstellation der Tatkraft in Zeiten von (damals schon) Trump, Putin und Erdoğan.

Ein Befreiungsschlag

Lindner hat schon seinerzeit mit seinem Kneifen vor der Verantwortung dazu beigetragen, die Enttäuschung über die „Traditionsparteien“ (wie Bundespräsident Steinmeier sie nannte) zu schüren und die AfD zu stärken. Dies tut er jetzt seit Monaten wieder, jetzt als Regierungsmitglied der Ampelregierung durch obstruktives Handeln.

Würde Kanzler Scholz in dieser Situation die Vertrauensfrage stellen, wäre dies töricht. Wenn sie zu einer Niederlage führte und Scholz dem Bundespräsidenten dann vorschlagen würde, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen, wäre er als Loser abgestempelt, als einer, dem die Kraft zur Führung einer Regierung fehlt.

Besser wäre es für ihn und die SPD, das Foul-Spielen von Lindner zu bestrafen, die Reißleine zu ziehen und Lindner ganz einfach als Minister zu entlassen, sich also als durchsetzungsfähig zu erweisen, wie es ja immer wieder von ihm verlangt wird. Die FDP würde daraufhin die Koalition verlassen, die anderen FDP-Minister würden zurücktreten – wohl zwangsläufig mit Schmerzen über den Verlust ihrer Pensionsansprüche, die erst nach vier Jahren Regierungstätigkeit entstehen.

Würde dies zugleich und umgehend Neuwahlen nach sich ziehen? Nein, denn die heutige Parteienkonstellation ist anders als 1982, als das wirtschaftspolitische Lambsdorff-Papier letztlich zum Bruch der SPD/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt führte; Helmut Kohl wurde damals mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums mit den Stimmen der FDP zum Kanzler gewählt. So einfach geht dies heute aber nicht mehr.

Es bedarf bekanntlich der Mehrheit der Stimmen im Bundestag, um einen Kanzler abzuwählen und einen neuen, es wäre dies Friedrich Merz, zu wählen. Diese Mehrheit bringen Union und FDP nicht mehr zustande. Die Grünen, die Linke und das BSW wären bei einer Wahl von Merz als Kanzler nicht mit von der Partie. Und selbst wenn CDU und FDP die AfD mit ins Boot nähmen, reichte dies noch nicht aus – ganz abgesehen davon, dass dann ein Sturm der Entrüstung ausbräche, weil Merz doch bisher immer betonte, eine Zusammenarbeit mit der AfD schließe er apodiktisch aus.

Warum Scholz nicht so leicht aus dem Sattel zu heben ist

Nur wenn Merz auch die inzwischen aus der AfD ausgetretenen fraktionslosen Abgeordneten überreden könnte, ihn zu wählen, könnte es ihm gelingen, sich mit einer äußerst knappen Mehrheit zum Kanzler zu machen – aber dann mit der schweren Bürde, seine Versprechen und das darauf bauende Vertrauen der Bürger gebrochen zu haben. Und mit wem würde er dann eigentlich eine mehrheitsfähige Regierungskoalition bilden?

Scholz ist also nicht so leicht aus dem Sattel zu heben. Nach Entlassung von Lindner könnte er erst einmal mit einer Minderheitsregierung aus SPD und Grünen weiterregieren. Und für Merz wäre es ratsam, sein Versprechen zu halten, mit der AfD nichts am Hut zu haben – zumal der Ausgang eines konstruktiven Misstrauensvotums für ihn wackelig ist. Er wäre für Merz besser, sich in einigen Fragen mit einer Minderheitsregierung Scholz zu einigen und dann Neuwahlen anzusteuern, die ihn zur Kanzlerschaft führen. Die Entlassung Lindners brächte also eine gewisse Berechenbarkeit in die deutsche Politik zurück. Ein Anlass zur Trauer wäre das nicht.

In den Novemberwochen liegen zwar die offiziellen Tage für Trauer und Tod, die stillen Tage: Am Monatsanfang „Allerheiligen“ und „Allerseelen“, am Monatsende der „Totensonntag“; das sind die religiösen Gedenktage. Dazwischen liegt der Volkstrauertag als nationaler staatlicher Gedenktag, er ist in diesem Jahr am 17. November. Und womöglich kommt ja in diesem Jahr noch ein zweiter, ein internationaler Volkstrauertag hinzu: Am kommenden Dienstag, 5. November, wird in den USA gewählt.

Sollte Donald Trump wiedergewählt werden, ist das Anlass für internationale Trauer und für globales Entsetzen. Trauer und Entsetzen gelten einer Tatsache, die vor Trump kaum jemand für möglich hielt: dass man mit Lügen, mit haarsträubenden Lügen nicht nur einmal, sondern gar zweimal Präsident werden kann.

Trump – völlig losgelöst von Recht und Moral

Die Lüge war und ist für Trump das Mittel für den Machterwerb. Schwindel, Betrug, Fälschung, Unverschämtheiten: Das alles hat es seit jeher in der großen und kleinen Politik immer wieder gegeben – aber selten so dreist, so unverfroren, so alltäglich und dreckig wie bei Trump. Zwar hat schon Niccolò Machiavelli das Lob der Lüge gesungen. Er war der politische Philosoph, der lehrte, dass zur Erlangung oder Erhaltung politischer Macht jedes Mittel unabhängig von Recht und Moral erlaubt sei: Wer ein großer Mann werden wolle, der müsse ein „gran simulatore e dissimulatore“ werden, ein großer Lügner und Heuchler.

Aber man hatte bisher gedacht, in Demokratien sei das anders. Man hatte gedacht, dass die Zerfallszeit der politischen Lügen in Demokratien kürzer wird, dass also die Lüge den Lügner immer schneller einholt. Trump widerlegt diese These. Dem Mann gebührt nicht die Wiederwahl, sondern die Verdammung seines Angedenkens; ihm gebührt das, was die alten Römer „damnatio memoriae“ nannten.

Was wir mit Trump lernen

Aber einen gewissen Dank hat sich der Trampler Trump verdient: Er hat den bequemen Glauben daran zerstört, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Kernstaaten der sogenannten freien Welt sich, und sei es auch langsam, quasi weiterentwickeln. Wir lernen mit Trump: Nichts, gar nichts geht von selbst. Aufklärung ist nicht irgendwann vom Himmel gefallen und dann für immer da. In den USA nicht, in Frankreich nicht, in Italien nicht, in Deutschland auch nicht.

Das Sichergeglaubte ist nicht sicher, weil Aufklärung nicht ein einmaliges und dann bleibendes Ereignis darstellt. Aufklärung ist immer und überall notwendig. Wie notwendig sie ist, zeigt die Anziehungskraft und die Faszination, die ein Diplom-Lügner wie Trump auf eine Vielzahl von Wählerinnen und Wählern ausübt.

Vor 240 Jahren, im September 1784, hat Immanuel Kant einen seiner berühmtesten Sätze zu Papier gebracht: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Der Hype um Trump zeigt, wie wichtig dieser Ausgang im Herbst 2024 ist. Die Welt braucht Aufklärung. Deutschland braucht sie auch. Der Ausgang aus der Unmündigkeit ist glücklicherweise in Deutschland derzeit leichter herstellbar als in den USA.


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