Trauern ist der Widerstand gegen das Verschwinden. Es verschwindet auch die Erinnerung an den Krieg. Das politische Spiel mit Atomwaffen bedroht den Frieden.

Von Heribert Prantl

Ein letzter Gruß: Es liegt ein Erdhaufen da, darin steckt eine Schaufel an einem langen Stiel. Die Menschen nehmen Abschied, sie treten ans offene Grab, sie nehmen eine Schaufel voll Erde. Dann macht es bum: Die Erde fällt auf den Sarg. Es ist ein dumpfes, ein polterndes Geräusch, irgendwo auf einem Friedhof in Deutschland. Ein Trauergast nach dem anderen tritt ans Grab: Bum. Bum. Bum. Es ist wie ein Salut.

Salut am Friedhof

Früher, bis hinein in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, wurde tatsächlich Salut geschossen, „als letzte Ehre für den verstorbenen Weltkriegsteilnehmer“, wie es hieß. Wenn der Pfarrer seine letzten Gebete gesprochen hatte, wurde es für einige Augenblicke ganz still. Dann krachte es dreimal; und hinten an der Friedhofsmauer sah man es rauchen. Da und dort auf dem Land gibt es diesen Brauch bis heute; die „Böllerkanone“ gehört der örtlichen „Soldaten-und Reservistenkameradschaft“, und die Kanoniere, die zur Totenehrung drei Böllerschüsse abfeuern, haben den amtlichen Schwarzpulverschein.

Aber die Weltkriegsteilnehmer sterben aus, die Kanoniere auch, der Brauch stirbt mit ihnen – und es stirbt die Erinnerung an den Krieg. Pazifisten gelten wieder als Narren. Und die scheidende Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) kann, ohne dass sich große Aufregung rührt, das Loblied von der atomaren Abschreckung singen und mit dem Einsatz von Atomwaffen in einem Konflikt mit Russland drohen.

Die Grünen, früher friedensbewegt, jetzt im Rausch der kommenden Regierungsteilhabe, haben dazu nicht gesagt, was dazu zu sagen ist: Ein Krieg mit Atomwaffen wäre die Beerdigung Europas. Wir sollten uns nicht um nukleare Teilhabe sorgen, sondern um die Teilhabe an neuen Abrüstungsinitiativen. Der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, genannt Befreiung, liegt hinter uns; er war im Jahr 2020. Abrüstung ist nun die neue Befreiung. Die scharfen Töne gegen Russland sind verbale Aufrüstung, sie leiten die militärische ein; vielleicht leiten sie die Beerdigung ein. Denn: Nicht nur der Klimawandel bedroht die Welt. Das neue politische Spiel mit Atomwaffen bedroht sie auch.

Olaf Scholz, Willy Brandts Enkel?

Die Alten, die erst den Weltkrieg und dann den Kalten Krieg erlebt und dann an der Überwindung der Spaltung Europas mitgewirkt haben, die den Wandel durch Annäherung propagiert, die Russland als Teil Europas betrachtet haben – sie leben nicht mehr. Es war die Generation Egon Bahr, es war die Generation Helmut Kohl. Das gemeinsame europäische Haus sieht heute schon fast wieder so aus wie der Bahnhof von Bayerisch Eisenstein in den Zeiten des Kalten Krieges. Dort, an der deutsch-tschechischen Grenze, an der Grenze zum ehemaligen Ostblock, ging eine massive Mauer quer durch die Bahnhofshalle. Das Klo war im Osten. 1991 öffnete der damalige Bundeskanzler Kohl den Grenzbahnhof wieder. Es ist Zeit für die Neuöffnung Europas. Wenn ein Bundeskanzler Olaf Scholz die Kraft hätte, darauf hinzuarbeiten – er wäre der politische Enkel von Willy Brandt.

Das sind graue und doch hoffnungsvolle Gedanken, die zum grauen Monat November passen, der als Trauermonat gilt: Am Monatsanfang liegen Allerheiligen und Allerseelen, die katholischen Gedenktage; am Monatsende liegt der Totensonntag der Protestanten. Dazwischen liegt der Volkstrauertag, der staatliche Gedenktag, der an die Kriegstoten und die Opfer von Gewaltherrschaft erinnern soll; in diesem Jahr wird man sich an diesem Volkstrauertag auch an die Aufdeckung der Mordserie des NSU vor zehn Jahren erinnern. Die Novembertage stehen kalendarisch für eine Kultur der Trauer und Erinnerung, die einst einvernehmliche Rituale kannte.

Diese Rituale, die eine christlich-religiöse Basis hatten, schwinden; sie schwinden deswegen, weil die christlich-religiöse Basis schwindet. An ihre Stelle treten nicht selten Unsicherheit und Verdrängung im Umgang mit dem Tod, mit den Toten und mit der Trauer. Das Sterben ist aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Wenn einer im Omnibus oder der U-Bahn eine schwarze Binde um den Arm trägt (wie das früher nach dem Tod eines nahen Angehörigen üblich war), schaut man ihn an wie einen Marsmenschen; es ist aber dann nur ein Nachfahre der Spätaussiedler aus Russland, bei denen die alten Rituale noch lebendiger sind – noch, denn auch bei ihnen gehen die Lieder und Bräuche verloren.

In schweigendem Respekt

Freunde erzählten von einer Szene, die sie im Italienurlaub erlebt haben, auf einer lauten Piazza mit Straßencafés und Souvenirläden: Zwischen den Kunden bahnte sich der Inhaber eines Ladens auf einmal den Weg zur Tür. Er machte sie zu, ließ die Jalousie herunter, blieb reglos davor stehen, blickte mit geneigtem Kopf auf den Platz. Auch die Fenster in den anderen Läden wurden verdunkelt; es wurde still. Touristen schauten irritiert. Nur eine Glocke war zu hören: Ein Leichenzug verließ die Kirche, überquerte die Piazza. Für einige Momente standen Zeit und Leben still. In schweigendem Respekt gab man dem Toten und seinen Angehörigen den Weg frei. Der Leichenzug entschwand, die Ladenbesitzer zogen die Jalousie hoch; es wurde wieder laut; das Leben ging weiter.

Die Szene ist wie ein Echo aus alter Zeit. Heute flüchtet sogar auf dem Friedhof der Spaziergänger, wenn ein Trauerzug daherkommt; oder er tut so, als sähe er ihn nicht und dreht ihm seine Rückseite zu. Mit einer politischen Demonstration kann der Mensch von heute gut umgehen. Mit einem Leichenzug, der auch eine Art von Demonstration ist – er demonstriert die Endlichkeit des Lebens -, tut man sich schwer. Gewiss: Man kann mit Todesverachtung die Nase rümpfen über formalisiertes und ritualisiertes Trauern, über Trauerregeln bis hin zur Trauerkleidung und dem Trauerjahr von einst. Aber das Wort von der letzten Ehre war und ist ein gutes Wort: Auch wenn man den Kummer der Angehörigen nicht teilt, ehrt man so den Toten und die, die um ihn trauern. Und man kehrt einen Moment ein in sich selbst – und spürt die eigene Seele, die in diesen Sekunden ihre Endlichkeit begreift.

Beerdigungen waren, Beerdigungen sind nicht private Veranstaltungen unter Beteiligung eines Pfarrers; Beerdigungen sind Seelsorge, sie gehören zum Kern des Religiösen. Ich habe mich darüber gefreut, dass die Evangelische Landeskirche in Württemberg Anfang Mai 2021 erfolgreich geklagt hat gegen eine Anordnung des dortigen Kultusministeriums, der zufolge aufgrund der „Bundesnotbremse“ ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von über 100 an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Teilnehmerzahl bei Beerdigungen auf 30 Personen zu beschränken sei. Das Ministerium hatte Beerdigungsfeiern als private Zusammenkunft gewertet, die Landeskirche sah darin einen öffentlichen Gottesdienst, der nach dem Infektionsschutzgesetz ausdrücklich von den Beschränkungen ausgenommen ist. Dieser kirchlichen Auffassung schloss sich das Verwaltungsgericht an.

In Bayern haben sich die Menschen früher gern „eine schöne Leich“ gewünscht, also ein schönes Begräbnis, bei dem viele Leute da sind, die anschließend etwas zum Essen und Trinken bekommen – solche Begräbnisse gab es von März 2020 an nicht mehr. Es war dies eine Folge der Kontaktbeschränkungen, ein Ausdruck der hygienischen Distanz, die auch die tröstende Umarmung erfasst, die die Nähe in Schmerz und Trauer erschwert oder gar unmöglich macht. Ich frage mich, ob Corona die Rituale des Lebens und des Sterbens nur auf Zeit beeinträchtigt oder ob es an ihrer Akzeptanz und Substanz nagen wird. Werden die Menschen, wenn die Kargheit lang genug andauert, reagieren wie der Mensch, der lange gehungert hat und danach gar nicht mehr recht essen kann? Wird die Abstinenz dazu führen, dass es irgendwann heißt, „Ach, das Brimborium, das brauchen wir doch gar nicht. Es ist aufwendig, es ist teuer, es kostet Zeit, und wir haben ja erlebt, dass es auch ohne geht“?

Erde zu Erde

Das Totengedenken hat sich geändert, es hat sich privatisiert, es findet kaum noch statt im öffentlichen Raum. Es entfernt sich auch von der Kirche. Es gibt immer mehr Trauerfeiern ohne Pfarrer oder Pastorin, ohne Weihwasser und ohne die alten liturgischen Formeln: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“. Der Gedanke hinter dieser Formel war und ist, dass der Mensch dorthin zurückgeht, wo er hergekommen ist. Es ist dies eine Erinnerung an den biblischen Schöpfungsmythos, in dem erzählt wird, wie Gott den Adam, den ersten Menschen, aus Erde schuf. Adam heißt im Hebräischen „Mensch“, und Erde heißt „Adama“.

Der Bezug dazu und der Bezug zu den damit verbundenen Ritualen geht verloren. Dann wird aus einem Ritual, das trösten soll, ein Anlass zur Empörung und zum Zorn darüber, dass der Tote zum Abschied „mit Dreck beworfen wird“. So überhaupt eine Erd- und nicht eine Urnenbestattung stattfindet, wird neben den Erdhaufen heute fast immer eine Schale mit Blüten gestellt, als Alternative. Das wirkt zärtlicher. Und mitfühlende Geistliche werfen die Erde nicht mit der Schaufel auf den Sarg, sondern lassen sie aus der Hand rieseln: Erde zu Erde. Andere Gesten, neue Gesten machen das Trauern nicht schlechter.

Ungut ist es aber, wenn das Trauern sich verstecken muss, wenn es in der Öffentlichkeit keinen Platz mehr hat. Dass der Tod zum Leben gehört, das ist mehr als ein dahingesagter Spruch. Es ist so – und das Trauern ist dann der Widerstand gegen das Verschwinden. Darf man weinen? Wo darf man weinen?

Es ist Jahrzehnte her, dass eine alte Tante, die zu einer Beerdigung eines Verwandten kam, nach ihrer Ankunft meine Großmutter fragte: „Weint man bei Euch vom Haus weg, oder erst in der Kirche?“ Es war dies die Frage, ob man schon auf dem Weg zur Beerdigung weinen soll und weinen darf. Ich habe über diese Frage bei der Erinnerung daran oft gelacht. Aber sie ist gar nicht lächerlich. Der Tod und die Tränen über ihn brauchen Raum im Alltag. Je weniger Raum die Gesellschaft dem Tod gibt, desto schwerer stirbt es sich. Trauer ist nicht nur Privatsache.


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