Wenn die Engel nicht behüten: weihnachtliche Fragen zum Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt.
Von Heribert Prant
Auf jedem Weihnachtsmarkt gibt es eine Menge von Engeln, auf dem in Magdeburg auch. Und es gibt den berühmten Vers aus dem Psalm 91, der der beliebteste aller Bibelsprüche ist: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen.“ Sie haben das nicht getan, als ein Attentäter am Freitag fünf Menschen totgefahren und über zweihundert verletzt hat. Sie haben das auch nicht getan, als ein Terrorist vor acht Jahren einen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz lenkte und 13 Menschen tötete.
Was hat es also auf sich mit Gott, dem „Herrn“, und seinen Engeln? Müsste man nicht auch gegen sie Haftbefehle erlassen? Wenn in ein paar Tagen die Jahresrückblicke erscheinen, wird die Magdeburger Untat einen bösen Schlusspunkt setzen. Und so mancher, ob gläubig oder nicht, wird sich, erschüttert über die Anschläge und Katastrophen, wünschen, es gäbe einen Gott, der dem Bösen in den Arm fällt.
Ein Jahr der Katastrophen
Ich erinnere mich an einen Vorweihnachtsabend, an dem ich mit meinem Freund Franz, einem sehr lebenspraktischen, erfahrenen und belesenen Pfarrer, diskutierte, wo denn Gott mit seinen Engeln bleibt, wenn er gebraucht wird. Wir saßen bei mir zu Hause am Esstisch, wir hatten gegessen und gesungen, wie es bei seinen Weihnachtsbesuchen immer der Brauch war. Und dann fragte er mich, was ich mir denn diesmal für meinen Weihnachtsleitartikel überlegt hätte.
Hinter uns lag ein Jahr der Flüchtlingskatastrophen, es war ein Jahr des Terrors und der islamistischen Grausamkeiten. Es war auch das Jahr, in dem sich ein junger, psychisch kranker Co-Pilot auf dem Rückflug von Spanien nach Deutschland im Cockpit seines Flugzeugs eingeschlossen hatte, um den Airbus A 320 zum Absturz zu bringen und sich auf diese Weise umzubringen. Er steuerte das Flugzeug gegen einen Berg, alle 150 Insassen kamen ums Leben – darunter eine Schulklasse des Joseph-König-Gymnasiums Haltern am See in Nordrhein-Westfalen.
Mir war dazu der schon zitierte Satz aus dem Psalm 91 eingefallen, der angesichts so eines Wahnsinns wie ein Hohn klingt: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf all deinen Wegen.“ Über die böse Trostlosigkeit des Satzes habe ich deshalb meinem Freund, dem Pfarrer Franz, geklagt – und dann in meinem Weihnachtstext darüber geschrieben: Wo waren die Engel beim Germanwings-Flug 4 U 9525? Wo waren sie? Genau das habe ich dann am Dreikönigstag des jetzt ablaufenden Jahres 2024 wiederum ganz bitterlich gefragt, als mein Freund Franz bei einem furchtbaren Unglück ums Leben kam: Wo waren die Engel an seinem schrecklichen Todesabend? Warum lässt ein Gott, wenn er denn existiert, geschehen, dass ein Mensch auf grausamste Weise umkommt?
Die Albträume des Lebens
Damals, bei unserem Vorweihnachtsabend vor bald zehn Jahren, hatte Franz lange sinniert und dann in seiner nachdenklich-bedächtigen Art gesagt: Wenn man den ganzen Psalm liest, schüttelt es einen. Er verwies darauf, dass es in diesem Psalm um die Albträume des Lebens ginge. Da sei die Rede vom Grauen der Nacht und den Seuchen des Tages, von Pfeilen, die abgeschossen werden und Tausenden, die auf dem Schlachtfeld fallen. Die Engel, die wir uns da herbeiwünschen, seien eine Chiffre für den Wunsch, nicht allein zu sein in höchster Not, also starke Beschützer zu haben.
Wer daraufhin den Kosmos der Engel studiert, wie ihn Glaube, Wunsch und Schreibtischgelehrsamkeit in Jahrhunderten geschaffen haben (wir haben diesen Kosmos damals an unserem vorweihnachtlichen Abend lustig Revue passieren lassen), der findet vornehmlich sehr mächtige Exemplare. Die alten gelehrten Theologen reden von Cherubim und Seraphim, sie unterscheiden die Throne und die Herrschaften, Mächte und Gewalten, die Fürstentümer, Erzengel und die normalen Engel. Diese Engel begleiten und geleiten, sie schützen, trösten und kämpfen; sie blasen Posaunen, führen Schwerter, besiegen Tod und Teufel. Als mein Freund Franz verbrannte, taten sie gar nichts.
Die göttliche Ohnmacht
Mein Freund Franz hat sehr wohl gewusst, was die wirklichen Themen sind oder sein müssten, und er konnte die Verirrungen der Theologie bespötteln. Die große Frage lautet: Warum lässt Gott, wenn er denn existiert, so unendlich viel Leid, warum lässt er Vernichtung und Ausrottung zu? Wo ist die göttliche Allmacht in den Folterkellern der Diktatoren? Wo ist sie in den Trümmerwüsten von Gaza? Wo ist sie, wenn Millionen von Menschen vor Hunger krepieren? Oder gibt es sie gar nicht, die göttliche Allmacht? Müsste man sich verabschieden von der Vorstellung eines allmächtigen Gottes? Braucht man eigentlich so einen Gott, mit dem man die Welt erklären und jedes Leid verklären kann?
Man kann die Grundfrage ganz einfach formulieren: Wann bist Du eigentlich lieb, lieber Gott? Der Schriftsteller Wolfgang Borchert, gestorben 1947 im Alter von 26 Jahren, hat sie exakt so gestellt. Er fragte das im Namen seiner Generation, die aus dem Hitler-Krieg in die verwüstete Heimat zurückkam: „Warst Du lieb, als Du meinen Jungen, der gerade ein Jahr alt war, als Du meinen Jungen von einer brüllenden Bombe zerreißen ließest? Wann bist Du eigentlich lieb, lieber Gott?“
Wo die wahren Engel sind
Lieb ist er an Weihnachten, da ist er das Christkind, da ist er klein und unschuldig. Da ist er nicht überlegen und allmächtig. Da fehlen alle Insignien von Potenz und Stärke. Da ist er selbst ein ohnmächtiges Kind im besetzten Land und auf Schutz angewiesen. Aber weil er so niedlich ist, ist er nicht davor gefeit, dass man ihm alles anhängt, was man für schön hält: Lametta, Kugeln, Stroh- und Glitzersterne, auch den religiösen Kitsch.
Wo waren die Engel bei der Katastrophe, die in Bethlehem immerhin da waren? Die Frage schmerzt, sie kann einen verrückt machen. Klar, wir kennen die Antwort, mein Freund Franz kannte sie natürlich auch: Die Engel sind keine himmlische Eingreiftruppe. Das Neue Testament lehrt es so: erst Krippe, dann Kreuz. Und unsere Lebenserfahrung lehrt das auch: erst Krippe, dann Kreuz. Wir alle spüren, dass die Lebensrisiken größer werden, und wollen sie abwenden. Statt gegen die Ursachen zu rebellieren, hoffen wir, ob wir gläubig oder ungläubig sind, auf Engel oder sonstige Heilbringer, die es wieder richten. Das tun sie nicht. Wir verlernen dabei, wer die wahren Engel sind: Die wahren Engel sind Leute, die fest daran glauben, dass Menschlichkeit und Gewaltlosigkeit möglich sind, und die danach handeln.
Und die wahre Kraft, um dem Albtraum in Magdeburg standzuhalten, besteht nicht in Kraftmeierei. Sie besteht im Zusammenkommen, Schweigen, Klagen, Trösten. Mehr braucht man manchmal nicht, um selbst Engel zu sein.