Nie wieder? Schon wieder! Von einem Journalismus, der den Rechtsextremismus aufdeckt und der die Zivilgesellschaft anregt. Wozu die Pressefreiheit gut sein kann – in Crailsheim und anderswo.
Von Heribert Prant
„Nie wieder“ – das ist ein warnendes Motto gegen den Rassismus, gegen den Rechtsextremismus und den neuen Nationalsozialismus. Es ist ein Motto, das aufrütteln soll. Aber es ist ein Motto, das die Situation beschönigt. Nie wieder? Schon wieder! Jeder fünfte Deutsche zeigt sich nämlich wieder offen für Diktatur, jeder fünfte Deutsche kann sich eine Diktatur „unter bestimmten Umständen“ vorstellen, zumindest teilweise. Und mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland ist mit der Funktionsfähigkeit der Demokratie im Alltag unzufrieden. Das besagt die neue Leipziger-Autoritarismus-Studie, die soeben auf der Jahrestagung der Otto-Brenner-Stiftung in Berlin druckfrisch verteilt wurde.
Bei dieser Tagung wurden zum zwanzigsten Mal Journalistinnen und Journalisten für „kritischen Journalismus“ ausgezeichnet. Die eben genannte Studie zeigt, wie wichtig so ein kritischer Journalismus ist – und wie gewaltig die Aufgabe ist, der sich die Pressefreiheit zu stellen hat. Dieses Grundrecht ist ja nicht zur bequemeren Berufsausübung da; es ist nicht einfach ein Privileg; es ist eine Verpflichtung. Das Grundrecht der Pressefreiheit ist für die Demokratie da – also dafür, die Zukunft gemeinsam gut zu gestalten.
Mit Undercover-Geschichten Geschichte geschrieben
Einer, der das immer wusste, einer, der überaus viel dafür getan hat, ist der heute 82-jährige Journalist Günter Wallraff. Er wurde bei der Tagung für sein Lebenswerk ausgezeichnet; und es war mir eine Ehre, für ihn die Laudatio zu halten. Zu ehren war eine multiple Persönlichkeit, ein Journalist, der in vielen Rollen intensivst recherchiert hat. Er hat demokratieunverträgliche, er hat untragbare Zustände aufgedeckt und ihre Verbesserung erzwungen: Zu ehren war also der türkische Leiharbeiter Ali. Zu ehren war Bildreporter Hans Esser. Zu ehren war der Paketauslieferer bei GLS, der 14 Stunden am Tag Pakete zu den Kunden schleppte. Zu ehren war ein Mann, der mit seinen Undercover-Geschichten Geschichte geschrieben hat – Mediengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte.
Wallraff hat 1981 beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe ein wegweisendes, ein spektakuläres Urteil erwirkt. Das Urteil besagt, dass auch die Veröffentlichung von rechtswidrig beschafften oder erlangten Informationen vom Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit umfasst ist, wenn diese Informationen für die Unterrichtung der Öffentlichkeit wichtig sind. Dieses Wallraff-Urteil hat es dem Journalismus ermöglicht, verdeckt zu recherchieren. Wallraff hat so den Journalismus geprägt, er hat ihn verändert, er hat ihn vorangetrieben, er hat ihn erweitert. Er hat untragbare Zustände aufgedeckt; er war und ist ein Vorbild für viele junge Kolleginnen und Kollegen. Er hat sich also um den Journalismus, um die Pressefreiheit und um die Demokratie verdient gemacht. Demokratie heißt ja: Zukunft! Gemeinsam! Gestalten! Wallraff hat das ernst genommen, er nimmt das ernst, er hat Debatten provoziert, er hat Diskussionen befruchtet, er hat Reformen bewirkt, er hat sie mit seinen Recherchen erzwungen. Wallraff war und ist anstößig im Wortsinn: Er hat Anstöße gegeben.
Er hat Nachfolgerinnen und Nachfolger, die wissen, dass es die Pressefreiheit nicht für die Verbreitung von Larifari und Lifestyle gibt, sondern dass der Journalismus eine gesellschaftspolitische Aufgabe hat. Soeben konnte man bei der Verleihung der Otto-Brenner-Preise für kritischen Journalismus solche Nachfolger erleben: Es sind Lokaljournalisten einer kleinen Zeitung in Crailsheim, einer fränkisch geprägten Stadt im Nordosten Baden-Württembergs. Dort erscheint das Hohenloher Tagblatt, das zur Ulmer Südwest Presse gehört; für dieses Tagblatt arbeiten die Journalisten Jens Sitarek, Harald Zigan und Timo Büchner. Sie beobachten und beschreiben mit Akribie rechtsextreme Umtriebe auf dem Land – und erhielten dafür einen Otto-Brenner-Preis.
Braune Umtriebe beobachtet und aufgedeckt
Das Land heißt in diesem Fall Herboldshausen – das ist ein Weiler, der so klein ist, dass er noch nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag hat. Der Weiler gehört zu Kirchberg an der Jagst in der Nähe der Stadt Crailsheim. Hier hat vor etwa fünfzig Jahren der antisemitische und rassistische „Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)“ einen Bauernhof gekauft, ihn zu einem rechtsextremen Jugendheim ausgebaut und den Neonazis und Völkischen aus Südwestdeutschland zur Verfügung gestellt. Der Hof wurde in den vergangenen Jahren zu einem Treffpunkt der braunen Szene aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Dort geben sich die Feinde der Demokratie die Türklinke in die Hand. Der Namenszusatz „Ludendorff“ des braunen Bundes bezieht sich auf Mathilde Ludendorff, die dritte Ehefrau des Generals Erich Ludendorff, des Kompagnons Hitlers beim Hitler-Putsch von 1923. Mathilde Ludendorff, gestorben 1966 in Tutzing, war eine bekannte Vertreterin der völkischen Bewegung; sie propagierte einen völkischen Feminismus.
Den Journalisten der Hohenloher Zeitung ist es in ihrer Berichterstattung gelungen, die kontinuierliche Beobachtung mit Hintergrundwissen über die Strukturen und die Ideologie der Betreiber des Hofes zu verbinden. Zu den Veranstaltungen in Herboldshausen, über die die preisgekrönten Journalisten Sitarek, Zigan und Büchner berichten, gehörten ein „Thing der Titanen“ ein „Aktivistenwochenende“ der Identitären Bewegung und ein „Winterlager“ von Sturmvogel. Henriette Löwisch, die Leiterin der Münchner Journalistenschule, lobte in ihrer Laudatio: „Diese kleine Zeitung schafft es, die Umtriebe in ihrer Nachbarschaft seit Jahren sehr intensiv und journalistisch mit höchster Qualität zu begleiten.“
Die Hartnäckigkeit, die Wallraff stets hatte, die Lust, den Dingen auf den Grund zu gehen, und die Fähigkeit, sich nicht abschrecken zu lassen: Das ist auch die Gabe, die die Kollegen vom Hohenloher Tagblatt auszeichnet. Timo Büchner, der junge Dritte im ausgezeichneten Recherchetrio, hat sich bei der Preisverleihung nicht mit auf die Bühne gestellt und sein Foto nicht auf die Leinwand projizieren lassen – um nicht, wie schon geschehen, Bedrohungen und Angriffen von rechts außen zu provozieren. Man braucht schon ein extrem dickes Fell, das den Bedrohungen, Angriffen und Pöbeleien der Extremisten standhält.
Mit Bürgern gegen das „Thing der Titanen“
Die Recherchen der Lokaljournalisten haben die Grundlage für eine große, äußerst aktive und weitgespannte Bürgerinitiative geschaffen – für das „Kirchberger Bündnis“. Es setzt sich zusammen aus 27 Vereinen, Organisationen und Gruppen aus Kirchberg/Jagst – vom Sportverein bis zum Gesangverein, die gemeinsam schwer aktiv sind gegen die Umtriebe der Rechtsextremen und der „Ludendorffer“. Diese Fußballer, Sänger und Naturschützer, also die Bürgerinitiative in der Provinz, vertreten ein Wertekonzept, „in dem Rassismus, Antisemitismus und antidemokratische Überzeugungen keinen Platz haben“ – so sagt es Gerhard Borchers, der Sprecher des Kirchberger Bündnisses. Ein Journalismus, auf dessen Boden der demokratische Zusammenhalt so üppig wächst, ist vorbildlicher Journalismus.