Wer das Lügengift produziert hat, das heute die AfD in hoher Dosis einsetzt und so die politische Landschaft ruiniert.
Von Heribert Prantl
Der Sündenfall ist jetzt zwanzig Jahre her. Damals ging die Arbeit eines Untersuchungsausschusses zu Ende, den es nie hätte geben dürfen und dessen Einsetzung bitter und fatal war für die politische Kultur der Bundesrepublik. Es war der fünfunddreißigste Untersuchungsausschuss in der Geschichte des Landes und der erste Untersuchungsausschuss der 15. Legislaturperiode.
Er wurde der „Lügenausschuss“ genannt. Die Opposition von CDU/CSU und FDP warf Rot-Grün vor, sich nur durch einen Wahlbetrug an der Macht gehalten zu haben: Die Regierung Schröder habe der Bevölkerung keinen reinen Wein eingeschenkt darüber, wie schlecht es um die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme stünde. Sie habe daher die Bundestagswahl nur durch Lug und Trug, durch „Wahlbetrug“ gewonnen.
Würde heute so ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss von der AfD beantragt – es würde heißen: „Das ist typisch AfD!“ Aber es gab noch keine AfD damals. Es gab eine CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, die es nicht verwinden konnte, dass die rot-grüne Koalition mit dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder die Bundestagswahl knapp gewonnen und ihr Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, der ein Bündnis mit der FDP eingehen wollte, knapp verloren hatte.
Damals machten die unterlegenen Parteien CDU, CSU und FDP etwas, was sie nie hätten tun dürfen: Sie warfen der Regierung Schröder vor, sie hätte die Bundestagswahl nur mit einer vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit über die schiefe Finanzlage des Bundes gewonnen. Einen Spitzenpolitiker namens Donald Trump in den USA gab es damals genauso wenig wie eine AfD in Deutschland. Aber der Vorwurf des Wahlbetrugs in den Jahren 2002/2003 war von Trump’scher Giftigkeit.
Wahlkampf mit toxischen Mitteln
Der im Parlament von den unterlegenen Parteien durchgesetzte Untersuchungsausschuss sollte die rot-grüne Regierung Schröder diskreditieren. Der Ausschuss sollte, das war der ihm gestellte Arbeitsauftrag, klären, „ob und in welchem Umfange Mitglieder der Bundesregierung … Bundestag und Öffentlichkeit hinsichtlich der Situation des Bundeshaushalts, der Finanzlage der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung sowie der Einhaltung der Stabilitätskriterien des EG-Vertrags … vor der Bundestagswahl am 22. September 2002 falsch oder unvollständig informiert haben“.
Es war dies nicht einfach ein Untersuchungsausschuss, es war dies die Fortsetzung des Wahlkampfs mit toxischen und bösartigen Mitteln. Es ging im sachlichen Kern des giftigen Streits darum, ob die Bundesregierung nach der Steuerschätzung im Mai 2002 die Wirtschaftsprognosen hätte korrigieren müssen.
Im Dezember 2002 wurde der Ausschuss eingesetzt, im Juli 2003 wurde die sogenannte Beweisaufnahme mit der Vernehmung des Bundeskanzlers abgeschlossen, im Herbst 2003, also vor genau 20 Jahren, wurden im Bundestag die Ergebnisse diskutiert. In 32 Sitzungen waren an die dreißig Zeugen befragt und 187 Aktenordner mit insgesamt 40 000 Seiten gefüllt. Das Ergebnis war nicht einfach ein „außer Spesen nichts gewesen“.
Das Ergebnis war eine Vergiftung des politischen Klimas. Es wurde ein Gift verspritzt, dessen sich heute die AfD in noch viel höherer Dosis bedient. Auf wackeligster Ausgangsbasis hatte die CDU/CSU schwerste Vorwürfe erhoben. Peter Altmaier, damals Obmann der CDU/CSU im Untersuchungsausschuss, forderte den Rücktritt von Bundesfinanzminister Hans Eichel, denn der habe „vorsätzlich die Menschen getäuscht“.
Eichel wischte dann in seiner Vernehmung alle Vorwürfe über die Interpretation von Wirtschaftsprognosen weg und sagte das, was auch die CDU/CSU und die FDP sehr wohl wussten: „Die Wirklichkeit verläuft immer anders; mal kommt man besser, mal schlechter damit weg.“ Irrtümer muss man der Politik zubilligen, Vereinfachungen, Beschönigungen, Beteuerungen und rosafarbene Prognosen auch.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat wohl, als er bei der deutschen Vereinigung ein Ostdeutschland der „blühenden Landschaften“ binnen kurzer Zeit versprach, auch wirklich daran geglaubt und aus diesem Glauben heraus seine Politik gemacht. Wie gesagt: Irrtümer muss man der Politik zubilligen.
Theater gehört zur Politik
Und: Theater gehört zur Politik, seitdem es sie gibt. Das ist nicht gut, das ist nicht schlecht, das ist einfach so. Es gibt, hier wie dort, schlechte Inszenierungen. Die Strickjacken-Politik von Helmut Kohl beim Umgang mit Gorbatschow war eine Inszenierung. Der Sprung des Umweltministers Klaus Töpfer in den Rhein im Jahr 1988 war auch eine. Und als der damalige bayerische Innenminister Alfred Dick mitten in der Tschernobyl-Katastrophe vor laufender Kamera hoch verstrahlte Molke gefuttert hat, war das auch eine Inszenierung; er wollte beweisen, dass das Zeug für Kinder zum Verzehr geeignet sei.
Das war nicht populistisch, das war einfach katastrophal falsch. Manchmal haben Politiker mit verantwortungslosen Inszenierungen Erfolg; so wie Roland Koch, CDU, der 1999 in allen hessischen Fußgängerzonen Klapptische aufstellte, auf denen man „gegen die doppelte Staatsbürgerschaft“, die Leute sagten „gegen Ausländer“, unterschreiben konnte. Koch gewann auf diese Weise die Landtagswahl und wurde Ministerpräsident. Seitdem regiert in Hessen die CDU. Bleibt das so? Dort wird jetzt am 8. Oktober wieder gewählt. Die Unterschriftenaktion damals war eine Inszenierung am rechten Rand der Demokratie.
Inszenierung, Wahrheit, Lüge? Eine seriöse demokratische Partei sollte vorsichtig sein damit, einer anderen Betrug und Lüge vorzuwerfen. Diese Art des Missbrauchs eines Untersuchungsausschusses zu Agitationszwecken in den Jahren 2002/2003 war ein Menetekel. Heute beschimpft und verhöhnt die AfD die Politik der von ihr so bezeichneten „Altparteien“, die sie feindselig auch „Systemparteien“ nennt, als dumm, als lügnerisch und betrügerisch. Sie vergrößert, vergröbert und verallgemeinert in hetzerischer Weise das, was Union und FDP damals mit Rot-Grün gemacht haben.
Das auf alle anderen Parteien und auf all ihre Kritiker gemünzte Wort „Lügner“ gehört zu den Lieblingswörtern der AfD, die sich gern aufs Podium der absoluten Wahrheit stellt und auf die angeblich dreckige Politik aller anderen zeigt. Sich selbst geben die AfD-Leute als Saubermänner aus und sie tun so, als seien sie unablässig damit beschäftigt, dem Volk reinen Wein einzuschenken. Vor denen, die das behaupten, müssen sich Wählerinnen und Wähler am meisten hüten.
Warum? Wer, wie es solche Extremisten tun, die für den Staat verantwortlichen Personen als „Volksverräter“ tituliert, wer behauptet, das alleinige Recht der authentischen Repräsentation zu haben, wer für sich allein die Führerschaft beansprucht und sich anmaßt, die ausschließliche Stimme des Volkes zu sein, wer ein moralisches Monopol für sich beansprucht und damit Grundrechte und Grundwerte aushebeln will – der ist ein Feind der Demokratie.