Der visionäre Pragmatismus des Muhammad Yunus macht Mut. Der Friedensnobelpreisträger aus Bangladesch ist gerade in Deutschland und wirbt für die Gründung von Sozialunternehmen. An ihm zeigt sich, was ein Einzelner vermag.

Kolumne von Heribert Prantl

In der Geschichte der Menschheit gibt es zwei Arten von Führungsgestalten. Es gibt die Weichensteller und es gibt die Fallensteller. Die Fallensteller zetteln Kriege an. Sie plündern den Planeten und führen Millionen von Menschen ins Verderben. Von diesen Fallenstellern gibt es leider viel zu viele. Die großen Weichensteller, die der Menschheit die Weichen in eine gute Zukunft stellen, sind weniger zahlreich. Zu diesen Wenigen gehört Muhammad Yunus.

Der Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesch ist ein visionärer Pragmatiker. Er ist einer, der auszog, die Armut zu beenden – urbi et orbi, in seiner Heimat und weltweit. Das klingt phantastisch, das klingt utopisch, das klingt verrückt. Aber nicht Yunus ist verrückt, sondern eine Welt ist es, die so tut, als wäre die bittere Armut von Millionen und Milliarden Menschen ein unausweichliches Schicksal. Dagegen ist Yunus angetreten, dagegen tritt er immer noch an. Er ist ein Wissenschaftler und Unternehmer, der nicht nur daran glaubt, dass die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht, sondern der ein solches Wirtschaften auch höchst erfolgreich praktiziert.

Der Banker der Armen

Professor Yunus ist, wie das Handelsblatt einmal schrieb, aus dem Elfenbeinturm der abstrakten Makroökonomie ausgebrochen und mit der Idee der Mikrokredite zum Banker der Armen geworden. Er hat mit der Gründung der Grameen-Bank („Grameen“ heißt das Dorf auf Bengalisch) das Finanzwesen revolutioniert, er hat es auf den Kopf gestellt. Statt an Männer vergibt er Kredite an Frauen. Er geht in die Dörfer, anstatt die Leute in die Bank kommen zu lassen. Er hat in seiner Heimat Millionen von mittellosen Frauen Arbeit und Auskommen verschafft. Er hat unzählige Sozialunternehmen gegründet, also Firmen, deren Ziel es nicht ist, Profit zu machen, sondern soziale oder ökologische Probleme zu beseitigen; es werden daher keine Dividenden ausgeschüttet, die Gewinne fließen zurück in die Unternehmen.

Der heute 82-jährige Professor ist der erste und bisher einzige Ökonom, der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das war im Jahr 2006. Das US-Wirtschaftsmagazin Forbes nahm ihn damals in die Liste der „zwölf größten Unternehmer der Gegenwart“ auf und Business Week bezeichnete ihn als einen der „fünf größten Unternehmer aller Zeiten“.

Ich habe ihn am vergangenen Freitag in Bensheim kennengelernt; dort wurde ihm der Karl Kübel Preis der gleichnamigen Stiftung für Kind und Familie verliehen. Ich habe einen weisen, witzigen, gewitzten und bescheidenen alten Herrn getroffen, der wieder ganz jung wird, wenn er erzählt, wie er Arme zu Unternehmern macht. Sein Mantra für die Nachwuchsunternehmer lautet: „Sei kein Arbeitssuchender, sei ein Arbeitsbeschaffer!“

Yunus liebt den Perspektivwechsel, wirbt für eine Armutsbekämpfung, die nicht nur aus Spenden und staatlicher Entwicklungshilfe besteht; er sprüht vor Ideen – und ist genau der, als den ihn die Laudatio der Karl Kübel-Stiftung bezeichnete: ein Weichensteller. Für die Familien und die Kinder seiner Kundinnen hat Yunus die Trassen und Gleise gebaut, die sie aus der Armut heraus und in ein besseres Leben geführt haben. Die Kinder und Enkelkinder seiner frühen Mikrokreditnehmerinnen bevölkern heute die Hochschulen ihres Landes. Spezielle Bildungskredite der genossenschaftlich organisierten Dorf-Banken haben das möglich gemacht.

Dreihunderttausend Telefonfrauen. Warum Frauen?

In seiner Dankesrede in Bensheim erzählte Yunus davon, wie vor vielen Jahrzehnten sein Armutsbekämpfungswerk begonnen hat: Er habe, so Yunus, die Leere der von ihm gelehrten eleganten Wirtschaftstheorien gespürt angesichts des erdrückenden Hungers und der Armut; 1974 herrschte eine schreckliche Hungersnot in Bangladesch. „In einem Dorf habe ich eine Frau getroffen, die Hocker aus Bambus bauen konnte, aber in absoluter Armut lebte. Ihr fehlte das Geld, um Bambus zu kaufen und mehr Hocker herzustellen – und sie konnte sich auch nirgendwo Geld zu vernünftigen Konditionen leihen. Ich beschloss, ihr und einigen anderen Dorfbewohnern Geld zu leihen, damit sie zu Unternehmerinnen werden konnten. In der Summe waren es nur 42 Dollar für 24 Leute, die aber damit klug umgegangen sind.“ Aus dieser Idee wurde die Grameen-Bank, die Millionen von Menschen Mikrokredite gewährt hat – es sind in erster Linie Frauen, an die seine Mikrokredite gehen.

Warum Frauen? Yunus hat früh erkannt: Geld, das durch eine Frau in den Haushalt fließt, bringt Vorteile für die gesamte Familie. „Wenn eine mittellose Mutter beginnt, ein Einkommen zu erzielen, dreht sich ihr Traum vom Erfolg immer um ihre Kinder, gesunde Ernährung und Bildung“, so Yunus. Männliche Kreditnehmer hätten da typischerweise andere Prioritäten. Daher vergibt die Grameen Bank ihre Kredite bis heute bewusst an Frauen. Die Rückzahlquote liegt bei über 97 Prozent. Konventionelle Banken können da nur staunen.

Weitgereiste und asienkundige Menschen berichten, dass das Internet in jedem bengalischen Dorf dreimal besser funktioniert als im Zug zwischen Hamburg und Berlin. Ich habe mir von Yunus erzählen lassen, wie das gekommen ist: Er hatte die Informations- und Kommunikationstechnologie als Chance für die arme Bevölkerung erkannt, ihr Leben zu ändern; zu diesem Zweck kooperierte er mit der norwegischen Telefongesellschaft Telenor.

Die Grameen Bank vergab Kredite an arme Frauen, damit sie Mobiltelefone erwerben und Telefondienste in den Dörfern anbieten konnten. Sie verkauften dann Telefonminuten an Nachbarn in ihren Dörfern – die so ihre mit Kleinstkrediten der Grameen Bank hergestellten Waren besser vermarkten konnten. Grameen Phone wurde zu einem der größten Unternehmen Bangladeschs. Schon 2006, bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an Yunus, gab es dreihunderttausend Telefonfrauen in Bangladesch, die in allen Dörfern des Landes Telefondienste anboten. Drei dieser Frauen nahmen den Nobelpreis zusammen mit ihm entgegen. In seiner Nobelpreisrede schilderte Yunus, es sei dies „der schnellste Weg aus der Armut hin zu sozialem Ansehen geworden“.

Ein Zugang zur Welt

Der Zukunftsforscher Peter Spiegel kommentiert das so: „Dieser Erfolg beeindruckte alle anderen Mobilfunkunternehmen der Welt, die sich daraufhin ebenfalls dem bis dahin völlig ignorierten, gigantisch großen Markt zuwandten. Muhammad Yunus erschloss damit nicht nur diesen Unternehmen neue Märkte, sondern den Armen der Welt den Zugang zu einer Zukunfts-Schlüsseltechnologie mit dem Nebeneffekt, die Preise rund um den Mobilfunk für alle weltweit schnell und steil nach unten zu bringen.“

Yunus nutzte das Internet für weitere bahnbrechende Innovationen. So lässt das Unternehmen Grameen Health Care in den ländlichen Regionen von Bangladesch Frauen mit Hilfe von Smartphones durch die Ärzte in den Städten aus- und weiterbilden. Auch mit sogenannten Social Business Joint Ventures zur Ausbildung von Krankenschwestern, zur Bekämpfung von frühkindlicher Mangelernährung und zur Trinkwasserversorgung hat Yunus die internationale Entwicklungszusammenarbeit aufgemischt. „Grameen“, das Dorf, wurde zu einem Wegweiser aus der Armut.

„Armut ist die Verweigerung aller Menschenrechte“, sagt Yunus. Er will „Frieden in einem umfassenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sinne verstehen.“ Und sein Traum besteht darin, eine Welt ohne Armut zu schaffen. In einer Welt ohne Armut, so träumt er, „wären die einzigen Orte, an denen man Armut sehen könnte, die Museen der Armut. Wenn Schulkinder dann einen Rundgang durch die Armutsmuseen machen, werden sie entsetzt sein, wenn sie das Elend und die Demütigung sehen, die Menschen erleiden mussten. Und sie werden ihre Vorfahren dafür tadeln, dass sie diesen unmenschlichen Zustand so lange toleriert haben.“ Der Träumer Yunus verbindet und verwirklicht seine Träume mit einem zupackenden sozialen Unternehmertum.

Außer man tut es

Aber: Der berühmte Satz aus Schillers „Wilhelm Tell“ gilt auch in Bangladesch: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“. Mit Grameen ist der Begriff Mikrokredit so populär geworden, dass Kredithaie ihn für ihre ausbeuterischen Angebote mit Wucherzinsen übernommen haben. Und: Die Regierung in Bangladesch sah und sieht den Friedensnobelpreisträger als Bedrohung – seit er vor vielen Jahren den (sofort wieder verworfenen) Plan hatte, eine eigene politische Partei zu gründen. Ermittlungen der Antikorruptionsbehörde, die es immer wieder gab und gibt, sollten und sollen Yunus einschüchtern. Eine Zeitlang hätte das fast geklappt – aber jetzt ist Yunus zu alt und zu souverän, um sich noch einschüchtern zu lassen.

Bei der Preisverleihung in Bensheim habe ich einen alten Herrn erlebt, der glücklich ist. Er ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, was ein Einzelner vermag. Sein Lebenswerk darf man zusammenfassen unter dem Titel: Von einem, der auszog, die Armut zu löschen. Es lehrt, dass Erich Kästners Spruch „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“ kein esoterisches Geschwätz, sondern ein wunderbares Prinzip ist – auch ein unternehmerisches Prinzip. Solches Unternehmertum ist ein Antidepressivum, das aus der Utopie Realität machen kann. Was vermag ein Einzelner? Ganz gewaltig viel. Muhammad Yunus zeigt es.


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