Wie das Bundesverfassungsgericht vor dreißig Jahren mit seinem Urteil zu Auslandseinsätzen deutscher Soldaten die Politik und die Bundeswehr verändert hat.
Von Heribert Prantl
Es gibt eine Unmenge von politischen Talk- und Unterhaltungsshows im deutschen Fernsehen. Ein politisches Quiz gibt es dort bislang nicht. Für den Fall, dass der Abwechslung halber so ein Quiz eingeführt werden soll, an dieser Stelle schon einmal ein Vorschlag für ein paar Fragen.
Frage eins: Wo steht im Grundgesetz etwas vom Frieden? Die Antwort ist einfach, es handelt sich auch nur um die Zehn-Euro-Frage: In der Präambel; da heißt es nämlich, man sei „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wenn der Quizkandidat lyrisch begabt ist, sagt er dann, dass es sich hier um die „Friedensglocke im Grundgesetz“ handele und bekommt dafür einen Sonderbeifall.
Die weiteren Fragen zielen dann darauf, wie diese Glocke in die Verfassung hineingekommen ist. Und so arbeitet man sich dann auf die große Hunderttausend-Euro-Frage vor. Sie lautet: Warum gibt diese Glocke keinen Ton von sich? Die Antwort lautet: Weil das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aus dieser Glocke vor dreißig Jahren den Klöppel herausgeschraubt hat. Von dieser Aktion, von diesem weitreichenden Urteil handelt diese Kolumne.
Das höchste Gericht öffnete die Kasernentore
Es ist eines der spektakulärsten und weitreichendsten Urteile, die das Bundesverfassungsgericht je gefällt hat: SPD und FDP klagten damals in Karlsruhe gegen die Auslandseinsätze deutscher Soldaten, die die Regierung Kohl angeordnet hatte. Am 12. Juli 1994 urteilte das höchste Gericht in seiner „Out of area“-Entscheidung darüber. Diese Entscheidung war militärisch so großzügig, wie es sich der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) und seine Generalität erhofft, aber eigentlich gar nicht erwartet hatten. Das Urteil öffnete die Kasernentore für Einsätze deutscher Soldaten in aller Welt.
Das juristische Placet für Out-of-area-Einsätze ging sehr, sehr weit. Die Auflagen, die die Richter machten, waren sogar geringer, als sie von der Regierung Kohl noch im Januar 1993 vorgeschlagen worden waren. Die Karlsruher Bedingung war und ist nämlich kaum spürbar: Es genügt, so sagte das Verfassungsgericht, stets die Zustimmung der einfachen Mehrheit des Bundestages.
Die Richter sagten: Anything goes, alles geht – juristisch jedenfalls. Der damalige FDP-Außenminister Klaus Kinkel mahnte sogleich erschrocken, man dürfe die bisherige militärische Zurückhaltung „nicht hysterisch aufgeben“. Er mahnte mit gutem Grund. Juristisch gibt es seitdem nämlich nur noch ein einziges absolutes Verbot: das Verbot des Angriffskrieges.
Es war ein weiter Weg vom Beginn der Grundgesetzberatungen bis zu diesem Punkt. Bei den Beratungen auf der Insel Herrenchiemsee hatte die einfache und einprägsame Formel einigen Zuspruch gehabt, die da lautete: „Der Krieg ist verboten.“ Mit diesem und in diesem Geist begannen im September 1948 die Arbeiten des Parlamentarischen Rats am Grundgesetz. Und so ähnlich ist es auch heute in der Hessischen Verfassung vom 1. Dezember 1946 zu lesen: „Der Krieg ist geächtet.“
Was ist Verteidigung und wo findet sie statt?
Mit dem Karlsruher Out-of-area-Urteil endete dann 1994 das folgenschwerste Ringen seit der Debatte um die deutsche Wiederbewaffnung in der Mitte der Fünfzigerjahre. Das Urteil vor dreißig Jahren änderte die gesamte deutsche Außen- und Militärpolitik.
Hauptaufgabe der Bundeswehr war bis dahin die Verteidigung des Bundesgebietes. So steht es auch bis heute im Grundgesetz, im Artikel 87a nämlich, der 1956 in die Verfassung geschrieben wurde: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Diese Verteidigung sei, so hieß es stets, die Primärfunktion der Bundeswehr. Die Wahrnehmung sogenannter Sekundärfunktionen („außer zur Verteidigung“) setze die ausdrückliche Zulassung durch das Grundgesetz voraus.
An dieser Ausdrücklichkeit fehlte es damals und fehlt es heute. Es gab daher schon immer Verfassungsjuristen und Politiker, die einfach den Verteidigungsbegriff neu und weit definierten: Sie argumentierten, Verteidigung sei viel mehr als nur Landesverteidigung. Verteidigung sei also nicht notwendig nur die Verteidigung eines angegriffenen deutschen Territoriums; das Grundgesetz begrenze nicht den geografischen Einsatzraum der Bundeswehr, sondern lege den politischen Einsatzzweck fest. Deutschland verteidigen könne man daher überall: am Hindukusch, in Syrien oder im Weltraum.
Das Bundesverfassungsgericht schloss sich im Ergebnis einer solchen weiten Auslegung an. Das Gericht nutzte zu diesem Zweck den Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz, in dem seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes die Einordnung der Bundesrepublik in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ möglich gemacht wird. Carlo Schmid (SPD) war bei den Grundgesetzberatungen der geistige Vater dieser Formulierung gewesen. Er meinte damit ausdrücklich nicht klassische Verteidigungsbündnisse, wie die Nato eines ist. Er verfocht die Idee, dass die eigene Sicherheit auch auf der Sicherheit des potenziellen Gegners beruhe. Carlo Schmid dachte bei Systemen kollektiver Sicherheit an eine Institution wie die Vereinten Nationen.
Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung vertrat das Bundesverfassungsgericht in seiner Out-of-area-Entscheidung vor dreißig Jahren die Auffassung, die Nato sei nicht nur ein klassisches Verteidigungsbündnis. Sie sei auch ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ im Sinn von Artikel 24 Absatz 2 Grundgesetz – und daher seien deutsche Einsätze im Rahmen der Nato grundsätzlich in Ordnung.
Diese Auslegung entsprach und entspricht zwar den Wünschen der Bundesregierungen; dem Geist des Grundgesetzes entspricht sie nicht. Die kreative Auslegung des Artikels 24 Absatz 2 war und ist ein Freifahrtschein für militärische Auslandseinsätze. Das galt für den Einsatz der Bundeswehr in Kosovo, das galt für den Einsatz in Afghanistan. Der Witz ist, dass das Verfassungsgerichtsurteil die Konsequenz gehabt hat, dass Deutschland wegen des Engagements im Ausland keine Armee mehr hat, die zur Landesverteidigung fähig ist – was jetzt teuer wieder aufgebaut werden soll.
Als Trostpflaster klebte das Bundesverfassungsgericht den im Text des Grundgesetzes gar nicht vorgesehenen Parlamentsvorbehalt ins Urteil: Vor jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr müsse die Bundesregierung die Zustimmung des Bundestages einholen. Das sollte die Rolle der Bundeswehr als Parlamentsarmee manifestieren. Sehr viel besser wäre es gewesen, das Bundesverfassungsgericht hätte die Politik aufgefordert, das Grundgesetz gegebenenfalls ausdrücklich zu ändern – und vor einer solchen Änderung Out-of-area-Einsätze nicht zu erlauben.
Der verblichene Wortlaut des Grundgesetzes
Zu einem Buch, das ein unentbehrlicher Ratgeber ist, sagt man „Vademecum“. Das kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie „Geh mit mir!“ Der unentbehrliche Ratgeber für alle Staatsbürger, auch für die Staatsbürger in Uniform, heißt Grundgesetz. Wenn es freilich um Auslandseinsätze der Bundeswehr und um Waffenlieferungen geht, ist es aus mit dem Vademecum. Geh mit mir? Das Grundgesetz geht nicht mit den deutschen Soldaten ins Ausland. Die geschriebene Wehrverfassung als Teil des Grundgesetzes befindet sich immer noch auf dem Stand von 1956.
Das Grundgesetz muss aber Antwort geben auf die Fragen, in denen es um Staatsgewalt im Wortsinn, um Leben und Tod, um Freiheit und Sicherheit geht. Das tut es nicht. Die Verfassungspraxis hat sich geändert, der Verfassungstext nicht. Die tatsächliche Verfassung der deutschen Armee hat mit der Aufgabenbeschreibung, die ihr die geschriebene Verfassung gibt, nicht mehr viel zu tun. Ein guter Zustand ist das nicht.