Die SPD leidet nicht einfach nur an ihrem Kanzler, sie leidet an politischer Magersucht. Es fällt viel leichter zu beschreiben, was ihr fehlt, als das, was sie noch auszeichnet. Aus einer Volkspartei ist eine Funktionspartei geworden.

Von Heribert Prantl

Ob der Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann ein früher Sympathisant oder ein Gegner der SPD war, weiß ich nicht. Doktor Hoffmann hat jedenfalls eine Geschichte geschrieben, die mir immer wieder einfällt, wenn ich über diese Partei nachdenke – es ist die Geschichte vom Suppenkaspar, die im „Struwwelpeter“ steht. Dabei handelt es sich um die erste literarische Beschreibung der Magersucht. Die Verse gehen bekanntlich so: „Der Kaspar, der war kerngesund, ein dicker Bub und kugelrund; er hatte Backen rot und frisch“. Aber dann aß der Suppenkaspar seine Suppe nicht mehr. Und die Geschichte geht tragisch aus: „Am vierten Tage gar / Der Kaspar wie ein Fädchen war / Er wog vielleicht ein halbes Lot – Und war am fünften Tage tot.“

So schnell geht das bei der SPD nicht: Sie ist kein Bub, sondern eine wunderbar alte Partei; und unter den Leuten, die diese Partei geprägt und geführt haben, sind Vorbilder, Helden und Heldinnen. Das Grundgesetz beschreibt die Bundesrepublik Deutschland als soziale Demokratie – und selbst die politischen Konkurrenten der SPD orientieren sich an den Wegweisern, die diese Partei im Lauf ihrer über hundertfünfzigjährigen Geschichte dafür aufgestellt und immer wieder erneuert hat. Aber genau das geschieht nicht mehr, die SPD gibt keine Wegweisung mehr. Und eine Partei wird nicht dafür gewählt, dass sie sehr alt ist und ihre Verdienste hat. Es ist dies die Suppenkaspar-Tragik der SPD: Die Partei wird immer magerer, dünner und substanzloser. Sie leidet an politischer Magersucht. Ihr fehlt die Lust und die Freude am Streiten, ihr fehlt das Ringen um und mit Positionen, ihr fehlt das Feuer; es fehlen ihr die Leute, die dieses Feuer haben. Es fällt einem sehr viel leichter, zu beschreiben, was der SPD fehlt, als das zu beschreiben, was sie noch auszeichnet.

Die Nicht-mehr-Arbeiterpartei

Bei den Europawahlen am 9. Juni 2024 erhielt die SPD mit 13,9 Prozent das schlechteste Ergebnis, das sie jemals bei einer bundesweiten Wahl erreicht hat. Die AfD lag mit 15,9 Prozent deutlich vor ihr. In allen neuen Bundesländern wurde die AfD mit Werten um die 30 Prozent zur führenden Partei. Im Editorial der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Perspektiven des demokratischen Sozialismus heißt es dazu: „Die AfD ist gewissermaßen die neue Arbeiterpartei: 34 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter wählten sie, nur noch zwölf Prozent die SPD, selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern lag die AfD, wenn auch knapp, vor der der SPD.“ Die Erinnerung an die deutschen Naziverbrechen, die Brandmauer, der Wahlkampf gegen Hass und Hetze, die unmögliche Performance von AfD-Führungskräften – all das habe kaum noch gewirkt. Zuletzt, nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, freute sich die SPD schon darüber, dass sie dort überhaupt noch in den Parlamenten vertreten ist.

Auf die Rolle der FDP degeneriert

Die SPD ist keine Volkspartei mehr. Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender von 2009 bis 2017, früherer Außenminister und Vizekanzler, analysiert bitter: „Die SPD hat sich zur Funktionspartei entwickelt, die man nicht um ihrer selbst willen wählt, sondern damit eine andere Partei eine Regierung bilden kann. Wir sind auf die Rolle der FDP degeneriert.“ Wollte man das ändern, sagt er, müsse man nicht zuerst den Kanzlerkandidaten austauschen, sondern an einem sozialdemokratischen Profil arbeiten. Gabriel feiert am kommenden Dienstag seinen 65. Geburtstag. Seit 47 Jahren, seit seinem 18. Lebensjahr, ist er SPD-Mitglied. Es ist ein Geburtstag der inneren Distanz zu einer Partei, die sein Leben war: Die SPD sei eine Ansammlung von Akademikern geworden, die weder die Alltagskultur ihrer einstigen Wähler kenne noch deren Sprache spreche. Vor allem habe die SPD völlig verlernt, den emotionalen Haushalt ihrer Wählerschaft zu bedienen, „weil sie den gar nicht mehr kennt“.

Verweht das Elend wieder?

Die Art und Weise, wie heute über die Fehler und Gebrechen der SPD geredet und geschrieben wird, erinnert an den Sommer und den Herbst 2008. Damals wurde nicht über die SPD so geredet, sondern über die CSU. Und es war dann tatsächlich so, dass die CSU bei der Landtagswahl in Bayern eine krachende Niederlage erlitt: Die Partei des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein verlor 17,3 Prozentpunkte, sie verlor die absolute Mehrheit der Landtagsmandate, die sie seit 1992 gehalten hatte, sie verlor den Ruf der Unbesiegbarkeit. Aber: Sie berappelte sich wieder. Ähnlich war es bei der CDU: Sie war in den Jahren 1999/2000, der Kohl-Spendenaffäre wegen, scheintot. Aber schon zwei Jahre später war sie wieder quicklebendig. Und auch die SPD hat schon eine solche Erfahrung gemacht: 1995, vor und nach dem Ende ihres damaligen Vorsitzenden Rudolf Scharping, lag sie elend darnieder. Innerhalb von zwei Jahren machte damals Oskar Lafontaine aus ihr wieder eine Regierungspartei. Man könnte folgern: In der Politik verweht nicht nur der Ruhm, sondern auch das Elend.

Aber darauf kann sich die SPD nicht verlassen: Was derzeit passiert, ist grundstürzend. Es ist nicht mehr abwegig, an das Schicksal der Democrazia Cristiana in Italien zu denken. Diese Partei, Urmutter des Nachkriegsitaliens, hat fast fünfzig Jahre lang die Geschicke dieses Landes bestimmt. Sie brach 1992/93 unter der Last der Korruptionsskandale zusammen, schämte sich schließlich ihres Namens und löste sich selbst auf. So weit wird es bei der SPD nicht kommen. Aber es gibt so etwas wie die Selbstauflösung einer Partei, deren Kennzeichen das Ringen um Positionen war und die argumentierende Leidenschaft. Eine solche SPD gibt es nicht mehr.

Auf den Leib geschnitten

Themen, die der alten, der diskutierenden SPD auf den Leib geschnitten wären, gäbe es genug. Sigmar Gabriel zählt sie auf: Es bräuchte, zum Beispiel, so sagt er, eine Auseinandersetzung über den Nutzen und die Gefahren der Stationierung weitreichender Waffensysteme nur in Deutschland (nicht wie früher in der Nato). Warum, so klagt er, fehlt jegliches Abrüstungsangebot – ein Angebot, das man trotz des Krieges in der Ukraine machen müsste? Und: Es bräuchte dringlich, so Gabriel, eine Diskussion über die seit Jahren absteigende Qualität unseres Bildungssystems im internationalen Vergleich: „Wo ist der große Bildungskongress der SPD nach den erschreckenden Ergebnissen der letzten OECD-Studie?“

„Weil wir das Kämpfen verlernt haben.“

Vor 37 Jahren, im Juni 1987, hat sich Willy Brandt auf einem Sonderparteitag ihm zu Ehren von der Spitze der SPD verabschiedet. Wer seine Rede nachliest, dem wird schnell klar, dass auch damals nicht alles Gold war. Brandt selbst sprach in seiner Rücktrittsrede von den „masochistischen Neigungen“ der SPD. Er sprach davon, dass manchem Sozialdemokraten manchmal zumute sein mag „wie dem Indianerjungen, der im Fernsehen zu viele Wildwest-Filme sah und traurig seinen Vater frage: ‚Daddy, weshalb gewinnen immer die anderen?‘“ Heute würde der Daddy die Antwort geben: „Weil wir das Kämpfen verlernt haben.“

 


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