Kirchenasyl ist das Aufbegehren gegen eine Politik, die sich von der AfD treiben lässt. In kaum einer anderen Frage sind die christlichen Gemeinden so engagiert.
Von Heribert Prant
Was ist Kirchenasyl? „Es ist und bleibt ein wichtiger, unverletzlicher Schutzraum in besonderen Härtefällen.“ So sagt es Bernd Kuschnerus, der oberste evangelische Geistliche in Bremen. Er sagte das, nachdem die Polizei in der vergangenen Woche mitten in der Nacht vergeblich versucht hatte, in der bremischen Zionsgemeinde das Kirchenasyl zu brechen; sie hatte einen Schützling der Kirche zur sofortigen Abschiebung zum Flughafen verfrachten wollen. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand von hundert Mitgliedern der Zionsgemeinde, die die Kirchenbänke weggeräumt und auf Isomatten und Schlafsäcken geschlafen hatten, sich dann der anrückenden Polizei entgegenstellten – als die zu nachtschlafender Zeit, um halb vier Uhr, mit drei Mannschaftswagen vorgefahren war, um einen 23-jährigen Somalier, den die Kirche unter ihren Schutz gestellt hatte, abzutransportieren.
Die biblischen Geschichten sind Fluchtgeschichten
Das Kirchenasyl „ist und bleibt ein wichtiger, unverletzlicher Schutzraum in besonderen Härtefällen“? Ist das wirklich noch so? Zuletzt hatte die Polizei Anfang Oktober ein Kirchenasyl in Hamburg geräumt. Seit Juni 2023 wurden laut der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ acht Kirchenasyle von der Polizei geräumt – so viele wie zuvor in zehn Jahren nicht. Die Christenmenschen, die ein solches Kirchenasyl gewähren, haben das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums im Sinn und im Herzen, in dem es heißt: „Ich war hungrig, ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig, ihr habt mir zu trinken gegeben, ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.“ Es handelt sich um eine Kernsequenz der christlichen Botschaft, in der Jesus, wenn er zum Weltgericht kommt, sagt: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Dass die Kirchen seit Jahrzehnten hartnäckig und unabhängig von Stimmungen, Moden und Gesetzesänderungen den Schutz von Geflüchteten fordern und selbst viel Geld sowie haupt- und ehrenamtliche Arbeit dareinstecken, ist in ihrer Identität begründet. Die biblischen Erzählungen über die Urväter, über Israel in Ägypten, über das babylonische Exil, über die Propheten und über das verfolgte Jesuskind sind allesamt Geschichten von Flucht, Migration und Rettung. Der Asylgedanke ist in den Religionen entstanden. Das Kirchenasyl war und ist ein Versuch, der Radikalität der eigenen heiligen Schriften nach sorgfältiger Prüfung gerecht zu werden. Konkret heißt das: die Schützlinge beherbergen, mit Essen, Kleidung und den Dingen des täglichen Bedarfs versorgen, unterrichten, seelsorglich unterstützen, ihnen Gesellschaft leisten und im Krankheitsfall gegebenenfalls für die Kosten aufkommen. Das kostet: Kraft, Zeit und Geld.
Der junge Flüchtling Ayoub in Bremen war ein besonderer Härtefall, so hatte es die Kirchengemeinde recherchiert und den Behörden nachgewiesen; dessen Not hatten aber die Behörden nicht sehen und nicht registrieren wollen. Ayoub ist ein sogenannter Dublin-Fall, weil er über einen Drittstaat, nämlich über Finnland, nach Deutschland eingereist war – und nach den sogenannten Dublin-Regeln daher grundsätzlich Finnland für das Asylverfahren zuständig ist. Die Kirchengemeinde hatte für ihr Not- und Härtefalldossier die Besonderheiten des Falles recherchiert und dort dargelegt, warum die Abschiebung nach Finnland in seinem Fall eine große Härte darstellt. Bestrafung von Pfarrern?
Bestrafung von Pfarrern?
In der Vergangenheit haben die Verwaltungs- und Migrationsbehörden ein Kirchenasyl auf der Basis eines Notfalldossiers immer wieder zum Anlass genommen, den Fall des jeweiligen Flüchtlings noch einmal zu überprüfen; der Staat hat dann in der Mehrzahl der Fälle seine bisher negative Entscheidung korrigiert. Eine Vereinbarung aus dem Jahr 2015 zwischen dem Staat (hier: dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf)) und den Kirchen hatte dazu ein geregeltes Verfahren entwickelt. Das Kirchenasyl war also so etwas wie ein Regulativ des Rechtsstaats auf der Suche nach Gerechtigkeit. Laut der Arbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ erkennen die Asylbehörden inzwischen aber nur noch unter ein Prozent der Härtefalldossiers an. Im Jahr 2015 seien es noch 80 Prozent gewesen. Es gibt unter dem Druck rechtsextremer Parteien eine neue harte Linie gegen Flüchtlinge; in Deutschland reagiert die Politik der demokratischen Parteien auf den Druck der AfD. Das Bundesamt kooperiert kaum noch mit den Kirchen. Es pflastert vielmehr der Staatsanwaltschaft und den Gerichten den Weg, der zur Bestrafung von Pfarrern führen soll.Eine lebendige Petition
Eine lebendige Petition
Der Staat hatte in den vergangenen Jahren die besondere Würde von Kirchenmauern regelmäßig respektiert, er wollte Flüchtlinge, die dahinter Schutz gefunden hatten, nicht mit polizeilicher Gewalt herauszerren. Das Kirchenasyl ist kein gewalttätiger Rechtsbruch; es ist, wenn man das Wort überhaupt gebrauchen will, allenfalls ein sanfter, ein geregelter Rechtsbruch; denn das Asyl in Kirchen und kirchlichen Gemeindezentren hat nach langen Gesprächen zwischen Kirche und Staat im Jahr 2015 Regeln gefunden – die aber mittlerweile von beiden Seiten verschieden interpretiert werden. Es war bisher so: Kirchengemeinden wagen den sanften Rechtsbruch nicht, um das Recht zu missachten, sondern um ihm auf die Sprünge zu helfen. Es ging darum, in Härtefällen in Zusammenarbeit mit dem Staat eine Überprüfung der Abschiebungsentscheidung zu erreichen.
Kirchenasyl ist also kein rechtsfreier Raum, sondern ein Freiraum des Rechts – durch Zeitaufschub bei der Abschiebung; es ist ein Zeitaufschub, in dem rechtliche Fehler geheilt werden können. Kirchenasyl ist also so etwas wie ein Asyl für die Gerechtigkeit des Rechts. Die Kirchengemeinden agieren gewaltlos, sie melden den Flüchtling sofort den Behörden – mit der Bitte, seinen Fall noch einmal rechtlich zu prüfen. Die Kirchengemeinden verstehen das nicht als kalkulierten Rechtsbruch, sondern als einen dringlichen Appell an die Behörden, als eine lebendige Petition im Sinn des Artikels 17 Grundgesetz. Lange Zeit waren diese Bitten und Petitionen in ihrer Mehrzahl erfolgreich. Das ist nicht mehr so.
Unverständnis beim SPD-Innensenator
Das Kirchenasyl bleibt gerade deshalb ein Stachel im Fleisch der sich immer weiter verschärfenden Asylpolitik. Die Kirchenasylbewegung ist die lebendigste Basisbewegung, die es in den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gibt. Seit vierzig Jahren gibt es Kirchenasyl in der Bundesrepublik, vor dreißig Jahren wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ von evangelischen und katholischen Christen gegründet. Von der neuen staatlichen Härte sind die Kirchen alarmiert. Im November hat das oberste evangelische Kirchenparlament den Rat der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, zu neuen Gesprächen mit dem Bundesinnenministerium und dem Bamf beauftragt. Der Berliner Bischof Christian Stäblein, Flüchtlingsbeauftragter der EKD, erklärte dazu: „Ich erwarte, ich erhoffe und fordere, dass wir zu dieser Kooperation zurückkehren – auch im Sinne der Menschlichkeit dieser Gesellschaft.“ Bei seinem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos sprach Papst Franziskus von der Hoffnung, „dass diese Welt diese Szenen tragischer und so verzweifelter Not beachtet und auf eine Weise reagiert, die unserer gemeinsamen Menschlichkeit würdig ist“. Das Kirchenasyl gehört zu diesen Reaktionen.
Der Gemeindepastor Thomas Lieberum von der Zionsgemeinde in Bremen hat alarmierend und protestierend die Kirchenglocken läuten lassen, als die Polizei das Kirchenasyl brechen wollte. Süßer die Glocken nie klingen? Der bremische Innensenator Ulrich Mäurer von der SPD war empört. Das sei, erklärte er, „an Zynismus nicht zu übertreffen“. Kirchenglocken fordern zum Gebet auf, so heißt es in den Ordnungen der Kirchen. Ob es für die Gemeindemitglieder der Zionskirche kein Grund zum Gebet ist, wenn ihr Schützling in Gefahr ist, möchte man den Innensenator zurückfragen. Man kann sich freilich auch fragen, was sich eigentlich an Zynismus nicht überbieten lässt: das Läuten der Kirchenglocken oder eine Asylpolitik, die sich von Rechtsextremisten treiben lässt.