Die Krankenhauslandschaft ist im Umbruch. Was sich im Gesundheitswesen, was sich in der Daseinsvorsorge ändern muss – und wie man das schafft.

Von Heribert Prantl

Midas, der König von Phrygien, wollte bekanntlich alles zu Gold machen, und wäre daran fast zugrunde gegangen. Er hatte sich, so geht die Sage, von Dionysos gewünscht, dass alles, was er berühre, zu Gold werde. Als Midas auf dem Heimweg einen Zweig streifte, einen Stein in die Hand nahm, Ähren pflückte, wurden Zweig, Stein und Ähren zu reinem Gold. Das Gleiche geschah mit dem Brot, wenn er sich an den gedeckten Tisch setzte. Auch die Getränke und das mit Wein vermischte Wasser, das er sich in den Hals goss, wurde zu Gold. Midas lief Gefahr, vor Hunger und Durst zu sterben, sodass er schließlich Dionysos bat, ihn von dieser verhängnisvollen Gabe zu befreien. Der Gott befreite Midas durch ein Bad in einer Quelle, die seither Goldsand führt.

Unsere Gesellschaft braucht solche befreienden Bäder auch. Sie berauschte sich zu lange daran, alles zu Gold zu machen – und tut das manchmal immer noch: Sie privatisierte die Wasserversorgung, sie privatisierte die öffentlichen Wohnungsunternehmen, sie privatisierte das Allgemeinwohl; sie vermarktet die Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen.

Dabei fehlt die Erkenntnis, die Midas gerade noch rechtzeitig hatte. Diese Erkenntnis lautet: Man kann am eigenen Erfolg auch krepieren. Der Unterschied zwischen Midas und dem radikalen Ökonomismus ist allerdings der, dass an der Sucht des Letzteren erst einmal die anderen krepieren – die eingesparten Arbeitskräfte, die Freigesetzten, die Entlassenen, die nutzlos Gemachten. Später leiden dann womöglich auch diejenigen, die man Kunden nennt. Neuerdings nennt man auch in den Krankenhäusern die Patienten immer öfter Kunden.

Die deutsche Krankenhauslandschaft ist im Umbruch. Länder und Kommunen sehen angesichts leerer Kassen immer noch in der Privatisierung ihre letzte Rettung; Kliniken wurden und werden zu Dumpingpreisen verkauft. Die Fragen liegen auf der Hand: Wird in der Folge das Behandlungsspektrum eingeschränkt, nicht insgesamt, aber für langwierige, teure Krankheiten? Sind die Notarztdienste rund um die Uhr in Gefahr? Die Aktionäre wollen ja Geld sehen.

Wo bleibt die Daseinsvorsorge, wozu der Staat verpflichtet ist, wenn Angebot, Nachfrage und Rentabilität angepasst wird? Wo bleiben Arme, Alte und chronisch Kranke? Und wo bleiben die Kinder? Die Behandlung von Kindern ist im Entgeltsystem der Fallpauschalen völlig unterfinanziert. Das System der Fallpauschalen hat die Gesundheitsversorgung in ein monetär bemessenes System überführt. Der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat vor zwanzig Jahren daran mitgewirkt. Jetzt versucht er, gegenzusteuern.

„Poor dogs“ und „cash cows“

Seit 2003 erfolgt in Deutschland die Abrechnung stationärer Krankenhausleistungen nicht mehr wie früher über den Krankenhaustagessatz, sondern über eine für die jeweilige Erkrankung des Patienten bundesweit festgelegte Fallpauschale. Kliniken unterscheiden daher heute zwischen Erkrankungen, mit denen sie Geld verdienen können und denen, mit denen sie Verluste machen. Man unterscheidet zwischen Kranken als „cash cows“ und Kranken als „poor dogs“.

Cash cows, also Melkkühe – das sind Patienten mit Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus Gewinne macht, bei denen technisch aufwendige Maßnahmen notwendig sind: beispielsweise Hüft- und Kniegelenksoperationen, Nieren- und Knochenmarktransplantationen. Und poor dogs – das sind Patienten, mit denen eine Klinik kein Geld verdienen kann, bei denen sie womöglich draufzahlt. Zu den poor dogs zählen alte Patienten, Patienten mit vielen Krankheiten, chronisch Kranke, Patienten, die sich wund gelegen haben, oder Rheumatiker. Was wird aus den Heilberufen, was wird aus Krankenhäusern, wenn die Krankenhausverwaltungen solche Unterscheidungen zur Vorgabe machen?

Es gibt natürlich auch Mittel und Möglichkeiten, aus einigen poor dogs noch cash cows zu machen – durch radikale Veränderung der Zeitabläufe in der Klinik: Weil Zeit Geld ist, muss einfach alles schneller gehen, die Arbeit wird verdichtet, die Liegezeiten werden verkürzt (was bei einem jungen Patienten sinnvoll, bei einem älteren dagegen fatal sein kann). Ein Beispiel: Ein Patient mit einer Lungenentzündung ist, wenn er ein oder zwei Wochen im Krankenhaus liegt, nach der Fallpauschalentlohnung ein poor dog; bei einem stationären Aufenthalt von nur drei Tagen kann aus ihm eine lukrative cash cow werden.

Werden die Ärzte dem Druck standhalten, der durch so ein kommerzialisiertes Gesundheitssystem auf sie ausgeübt wird? Dieser Druck ist erfinderisch. In zahlreichen privaten Krankenhäusern werden sogenannte Boniverträge für Chefärzte abgeschlossen, wie wir sie aus der Finanz- und Bankenwelt kennen- und fürchten gelernt haben. Bei diesen Verträgen erhält der Chefarzt am Jahresende ein Extrahonorar, wenn er auf eine bestimmte Zahl von besonders profitablen Leistungen kommt – dazu zählen die Implantationen von Prothesen oder auch Herzkatheteruntersuchungen. Kommt es eines Tages so weit, dass die Patienten hinter individuellen ärztlichen Maßnahmen geldgesteuerte Handlungsanweisungen vermuten können?

Was jeder Pförtner weiß

Die Ökonomisierung hat auch das medizinische Handeln und Denken ergriffen. Der alte König Midas ist ein Repräsentant dieser Entwicklung. Er ist der Schutzheilige der Ökonomisierung und der Schutzpatron der Rationalisierung. Eine enge betriebswirtschaftliche Rationalität ist an die Stelle der Ratio, der Vernunft der Aufklärung, getreten. Man nennt das Rationalisierung.

Zu diesem Zweck bedienen sich auch Krankenhäuser und Medizinische Versorgungszentren der Unternehmensberatungen, die das, was auch jeder Pförtner weiß, in die Sprache der Banken übersetzt: dass man das Geld für dreißig oder dreihundert Leute einspart, wenn man dreißig oder dreihundert Leute freisetzt; und dass man sich das Geld für zwei oder zwanzig kleine Krankenhäuser spart, wenn man sie auflöst und einem großen Krankenhaus zuschlägt. Die eingesparten Kosten fallen in letzter Instanz auf das Gemeinwesen, auf den Steuerzahler, auf den hilfesuchenden Kranken. Es ist Zeit, die Midas-Monarchie abzuschaffen.


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