Dem Bundespräsidenten fehlt in seiner Rede zum 9. November die radikale demokratische Zärtlichkeit. Er sagt zwar richtigerweise, dass es mit Extremisten keinerlei politische Zusammenarbeit geben dürfe. Er scheut aber das klare Wort zu einem Parteiverbot.

Von Heribert Prant

Dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier wird nachgesagt, dass er kein großer Redner sei, dass er keine bedeutenden Reden halte. Das ist falsch. Das ist ein Vorurteil. Steinmeier hat wunderbar geschichtsmächtige Reden gehalten, zum Beispiel zum hundertsten Jubiläum der deutschen Revolution von 1918. Er holte die demokratischen Revolutionen von 1918 und auch die von 1848 heraus aus der Abstellkammer der Demokratiegeschichte. Und er fand bewegende und aufrüttelnde Worte zum 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Aber ihm fehlt die Verve, ihm fehlt die radikale Zärtlichkeit, ihm fehlt die kompromisslose und leidenschaftliche Konsequenz, wenn es um die Verteidigung der Demokratie im Jahr 2025 geht.

Seine diesjährige Rede zum 9. November, seine Rede zum Tag des Mauerfalls, war der wehrhaften Demokratie gewidmet – aber sie war zu wenig wehrhaft. Steinmeier ist nicht blind, er sieht natürlich, dass sich, zumal im Osten der Republik, in das Gold der deutschen Farben immer mehr braune Streifen mischen. Aber er tut zu wenig dagegen. Er ermahnt zwar die demokratischen Parteien, diese bleibende Lehre aus der Weimarer Republik zu ziehen: Es dürfe mit Extremisten keine politische Zusammenarbeit geben, weder in einer Regierung noch in den Parlamenten. Aber: Der zwölfte Bundespräsident ist kein Cato.

Was jetzt nottut

Der alte Cato, genannt Censorius, lebte vor mehr als zweitausend Jahren im alten Rom. Bis auf den heutigen Tag erinnert man sich an ihn, weil er seine Senatsreden stets mit dem berühmten Ceterum censeo beschloss: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.“ Die friedlichere Variante für die Politik von heute lautet: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die AfD verboten werden muss. Ceterum censeo AfD esse vetandam – „vetare“ ist das lateinische Wort für verbieten.

Seitdem sie im Bundestag sitzt, ist die AfD nicht demokratischer, sondern immer extremistischer geworden. Der Bundespräsident hatte und hat nicht die Kraft und nicht die Traute, das in der wünschenswerten Deutlichkeit zu beklagen und zu verurteilen. Man mag der Meinung sein, das gezieme sich nicht für das Staatsoberhaupt. Aber das stimmt nicht: Steinmeier ist nicht einfach nur der oberste Repräsentant des Staates, er ist auch, wenn es nottut, der oberste Whistleblower des Landes. Und es tut not.

Der Bundespräsident warnte in seiner Rede davor zu glauben, das Parteiverbot „sei die alles entscheidende Frage“. Das ist das Argument der Abwimmler. Steinmeier sagte: „Wann – und ob – dieses Mittel angemessen ist, ob es irgendwann sogar unausweichlich ist, diese politische Debatte muss geführt werden, und sie wird geführt. Ob die Voraussetzungen vorliegen, das muss geprüft und abgewogen werden.“ Wie lang denn bitte noch? Es ist Feuer am Dach. Und Steinmeier und Co. wollen immer noch prüfen, ob man nun den Druckknopfmelder einschlagen soll oder nicht.

Es geht um Alpha und Omega des Rechtsstaats

Aber wenn die doch gewählt werden, aber wenn die doch gewählt worden sind – so wird es immer wieder über die AfD gesagt; gerade so, als wäre die Wahl eine Rechtfertigung für alles. Wer so redet, wer so denkt, der hält die Demokratie für eine Kiste, die man „Urne“ nennt – also genauso wie das Gefäß, in dem die Asche von Verstorbenen aufbewahrt wird. Eine gute Demokratie ist aber mehr als eine Wahlurne, sie muss Werte haben, Werte leben und Werte verteidigen – und der Bundespräsident hat diese Werte zu verkörpern und zu verteidigen. An der Spitze der Werte im Grundgesetz steht die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Wenn eine politische Partei diese Werte verachtet und verhöhnt, wenn sie die Menschenwürde ethnisch definiert, wenn sie Feindschaft sät, wenn sie Hass und Rassismus predigt – dann ist sie keine demokratische Partei.

Zwei Artikel des Grundgesetzes sind die Grundlage unseres Gemeinwesens, sie sind Alpha und Omega des Rechtsstaats. Das Alpha kennt jeder. Alpha, das ist der ebenso schlichte wie großartige Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und da ist zum anderen das Widerstandsrecht: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Dieser Satz, dieser Widerstandsartikel, ist das Omega des Rechtsstaats.

Es gibt Staatsrechtler, die diesen Widerstandsartikel für ein pathetisches Larifari halten: Wenn der Widerstand erfolgreich sei, so sagen diese Verfassungsjuristen, dann brauche man doch hinterher keine große Rechtfertigung durch ein ausdrückliches Recht; und wenn der Widerstand scheitere, dann helfe so ein Recht auch nichts mehr. Eine solche Bewertung ist falsch. Sie verkennt die Kraft des Symbols. Und sie verkennt, dass in diesem Artikel 20 Absatz 4 eine Forderung und eine Mahnung steckt, die für die Demokratie essenziell ist. Er ist die Aufforderung, nicht so lange zu warten, bis „andere Abhilfe nicht mehr möglich ist“. Der Widerstandsartikel appelliert an die Courage der Demokratinnen und Demokraten; er fordert, es nicht so weit kommen zu lassen, dass man den großen Widerstand braucht, wie er in Artikel 20 Absatz 4 benannt ist.

Schwarz-Rot-Braun verhindern

In der Demokratie muss ein kleiner Widerstand beständig geleistet werden, auf dass der große Widerstand nie mehr notwendig wird. Der Widerstand in der Demokratie heißt Widerspruch, Zivilcourage, aufrechter Gang. Er trägt die Namen der Whistleblower, er trägt also die Namen derer, die wachrütteln, die Unrecht aufdecken, die Missstände benennen und dafür persönlich geradestehen. Es gibt Situationen im Leben einer Demokratie, in denen ihr oberster Repräsentant der wichtigste Whistleblower ist. Diese Situation ist da.

Der Bundespräsident gehört nicht zu den Verfassungsorganen, die nach dem Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Anträge zur Verteidigung der Demokratie stellen können. Aber er kann diese Verfassungsorgane ermahnen, das gründlich zu prüfen. Er kann und soll sie ermahnen, das Prüfverfahren in Karlsruhe einzuleiten. Denn: „Um zu überleben, muss unsere Demokratie eine streitbare Demokratie werden.“ Der Soziologe Karl Mannheim hat das gesagt. Karl Mannheim ist, wie der Verfassungsjurist Karl Loewenstein, 1933 vor den Nazis geflohen und hat dann mit diesem zusammen die Lehre von der wehrhaften Demokratie entwickelt. Auf die Lehre von der wehrhaften Demokratie hat sich der Bundespräsident in seiner Rede zum 9. November berufen.

Es gilt, den Weg von Staat und Gesellschaft nach Rechtsdraußen mit Kraft und Entschlossenheit zu versperren. Es gilt mit aller Kraft zu verhindern, dass aus Schwarz-Rot-Gold ein Schwarz-Rot-Braun wird. Das ist der Auftrag des Grundgesetzes. Das ist das Vermächtnis der Widerständler, die die Naziherrschaft überlebt hatten. Deutschland muss sich heute gegen die Gefahren der autoritären Ansteckung wehren; die deutsche Demokratie muss also Widerstand leisten gegen die AfDisierung der Politik. Proteste gegen den Abstieg ins Autoritäre sind kein Klamauk, sondern ein Grundrecht und eine rechtsstaatliche Pflicht.

Es reicht nicht, wenn der Bundespräsident die Waffen der wehrhaften Demokratie einfach nur vorstellt. Er darf, er kann und er muss die anderen Verfassungsorgane auffordern, die Waffen der wehrhaften Demokratie in die Hand zu nehmen. Das ist der kleine Widerstand, der ihm obliegt. Es ist dies die Selbstermahnung, nicht so lange zu warten, bis „andere Abhilfe nicht mehr möglich ist“.


 

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