Aber unbequem, wie der dritte Bundespräsident es war, ist der zwölfte nicht. Für eine Friedensethik hat er wenig Gehör.

Von Heribert Prantl

In Frankreich findet man Liberté, Fraternité und Égalité in jedem Dorf. Die Franzosen sind stolz auf ihre Revolution. Die Denkmäler für die Ur-Tage der französischen Demokratie sind dort kaum zu zählen. In Deutschland ist das ganz anders. Da reichen zur Aufzählung der revolutionären Gedenkorte die Finger einer Hand.

Es gibt das Hambacher Schloss, es erinnert an die erste Großdemonstration, die im Jahr 1832 dorthin geführt hat. Es gibt eine „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“ in Rastatt. Sie wurde 1974 auf Anregung des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann im Rastatter Schloss eingerichtet; aber kaum jemand kennt diese Stätte. Warum in Rastatt? Am 11. Mai 1849 leitete der Aufstand der dortigen Garnison die heiße Phase der demokratisch-badischen Revolution ein.

Noch unbekannter als Rastatt ist das Denkmal im bayerischen Hof: Dort gibt es seit 1998 eine schöne Erinnerung an den demokratischen Publizisten und Politiker Johann Georg August Wirth, der 1831/32 Herausgeber der liberal-demokratischen Zeitung Deutsche Tribüne war, des bedeutendsten Organs des Vormärz. Seit 2020 gibt es im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, einen Robert-Blum-Saal – zum Gedenken an den populären Abgeordneten des Paulskirchen-Parlaments, der am 9. November 1848 vom kaiserlichen Militär in Wien standrechtlich erschossen wurde.

Eines der wichtigsten Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte

Damit ist die Denkmalerei auch schon fast zu Ende. Und dann gibt es natürlich die Paulskirche in Frankfurt als den zentralen Ort der frühen deutschen Demokratie; dort tagte 1848/49 die erste deutsche Nationalversammlung. Die Renovierung verläuft leider weder schwung- noch gehaltvoll. Dürftige Konzepte sind ein Spiegel des dürftigen Erinnerns. Das heißt: Die deutsche Demokratie muss sich ihre Revolution zurückholen – ihre Kämpfe, ihre Helden, ihre Mythen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gibt sich da einige Mühe. Soeben, bei seiner Rede zum 175. Jahrestag der Märzrevolution von 1848 in Berlin, hat er nicht nur daran, sondern auch an den 18. März 1793 erinnert; da wurde in Mainz die erste deutsche Republik proklamiert. Georg Forster, der Naturforscher und Weltumsegler, war dort Vizepräsident.

Die Mainzer Republik währte zwar nicht lange, aber der Same war gesät. Gut fünfzig Jahre später wurden die liberalen Märzforderungen erhoben – für Presse- und Versammlungsfreiheit, für unabhängige Gerichte, für eine Verfassung, für ein nationales Parlament. Der Bundespräsident sprach soeben davon, dass damals Bürgermut und demokratisches Selbstbewusstsein erwacht sei: „Überall gab es Menschen, die ihre Lage nicht länger als gottgegeben hinnehmen wollten; die mit Leidenschaft für neue Ideen stritten; die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen – für sich, für andere, für das Gemeinwesen.“ Diese „Selbstermächtigung“ der Bürgerinnen und Bürger macht, so Steinmeier, „die Märzrevolution zu einem der wichtigsten Ereignisse der deutschen Demokratiegeschichte“.

Wegbereiter

So sah diese Revolution damals aus in Berlin: Als am 18. März 1848 preußische Dragoner auf die am Berliner Schloßplatz friedlich demonstrierenden Menschen einhieben – da begann der Aufstand. Barrikaden wurden gebaut, junge Männer bewaffneten sich, griffen die Soldaten an, die versuchten, den Aufstand niederzuschlagen. Für wenige Tage triumphierte die Revolution, Friedrich Wilhelm IV. musste den Befehl zum Rückzug seiner Truppen geben – und beim Trauerzug für die von seinen Soldaten getöteten Revolutionäre musste er, Trauer heuchelnd, seinen Hut ziehen vor diesen „Märzgefallenen“. Es war ein Staatsbegräbnis von unten. In dem Schloss, in dem einst dieser Friedrich Wilhelm IV. zeitweise wohnte, amtiert heute der Bundespräsident – und erinnert immer wieder an die Wegbereiterinnen und Wegbereiter der deutschen Demokratie.

Die Revolution von 1848/49 fand ihre Fortsetzung nach dem Ersten Weltkrieg in der Revolution von 1918, die mit der Fürstenaustreibung begann und dann in die Weimarer Verfassung mündete, die viel besser war, als es ihr Ruf ist. Die Weimarer Verfassung war nicht, wie heute oft behauptet wird, ein Murks, sondern ein Glanzstück. Sie hatte versucht, aus der jungen Republik eine Grundrechterepublik zu machen. Es war ihr nicht geglückt. Aber es stehen dort Artikel, die man heute noch mit Respekt und Stolz zitieren mag.

Die Weimarer Verfassung war eine bemerkenswert gute Verfassung; aber die Zeiten, in denen sie Geltung hatte, waren bemerkenswert schlecht. Diese Weimarer Verfassung war modern, sie war aufklärerisch, sie war emanzipatorisch; sie brachte das Frauenwahlrecht; sie war ihrer Zeit voraus. Sie hat nicht die Nazi-Diktatur ausgebrütet; sie hat aber die Verrohung der politischen Kultur nicht verhindern können. Das hätte diese Verfassung aber auch dann nicht geschafft, wenn der liebe Gott sie geschrieben hätte. Der Geist der Revolution von 1918/19 steckt im deutschen Sozialstaat. Zu den ersten Früchten dieser Revolution gehörte die Anerkennung von Gewerkschaften, Tarifverträgen und Betriebsräten sowie die Einführung des Achtstundentags – das war schon sechs Tage nach Ausrufen der Republik.

Ein politischer Archäologe

Steinmeier hat seinerzeit zum hundertsten Jubiläum die Revolution von 1918/19 eindrucksvoll gewürdigt, so wie er es seit einiger Zeit mit der von 1848/49 tut. Er gräbt die Wurzeln der deutschen Demokratie aus. Er ist ein politischer Archäologe, ein Archäologe der demokratischen Zeitgeschichte. Und er fügt diese revolutionären Tage ein in die Geschichte der europäischen Befreiungsbewegung: 1953 der Aufstand in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1970 und 1980 in Polen; heute in der Ukraine – die Verteidigung gegen die russische Invasion.

Zur europäischen Befreiungsgeschichte gehört im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Überwindung der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland. Der Heidelberger Zeitgeschichtler Edgar Wolfrum hat zu Recht die Überwindung von Diktaturen als den europäischen Gründungsmythos bezeichnet.

Gustav Heinemann, der dritte Bundespräsident, hat seinerzeit vom „ungehobenen Schatz in der Vergangenheit“ geredet und eröffnete, 1974, vier Tage vor dem Ende seiner Amtszeit, die schon erwähnte Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte. Frank-Walter Steinmeier unternimmt es immer wieder, das Fundament der deutschen Demokratie im Sinne Heinemanns neu zu festigen: stolz zu sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen.

Steinmeier, der zwölfte Bundespräsident, folgt hier der Wegweisung seines Vor-Vor-Vorgängers, des dritten Präsidenten. Steinmeier ist, wenn es um Demokratiegeschichte geht, Heinemanns politischer Enkel. Heinemann galt freilich als ein rundum unbequemer Präsident, er verfocht einen moderaten Pazifismus in Zeiten der Aufrüstung. Heinemann war ein engagierter Verfechter einer Ethik des Friedens. Davon spürt man im Wirken Steinmeiers noch nicht so viel. Bei den Reden Steinmeiers zum Ukraine-Krieg sehnt man sich nach der unbequemen Nachdenklichkeit von Gustav Heinemann.


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