Guten Tag,
der 1. Mai hat schon viel ausgehalten, seitdem er 1919 von der Nationalversammlung in Weimar zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden ist – damals übrigens erst einmal nur für dieses eine Jahr 1919; als Tag der Arbeiter ist er schon Jahrzehnte älter. Dieser 1. Mai hat Proteste und Provokationen erlebt, Jubel und Verbote, friedliche und unfriedliche, langweilige, spektakuläre und routinierte Demonstrationen. Er wird auch Corona aushalten. Es war auch in diesem Jahr, wie schon 2020, ein Maifeiertag ohne Überschwang – irgendwie belastet, bedrückt, distanziert. Er fügt sich ein in das Auf und Ab der Maifeiern der vergangenen Jahrzehnte.
Die Führung zieht am Volk vorbei
In Bundesrepublik wurde aus den gewaltigen Massenkundgebungen, aus den Kampf- und Feiertagen der frühen Fünfzigerjahre, zunächst eine Mairevue, dann ein Bratwurstfest, eine Art Volksgaudi für die ganze Familie. Aber auch der verrückte Traum, den die Schriftstellerin Christa Wolf im November 1989 bei der großen Demo auf dem Ostberliner Alexanderplatz umjubelt träumte – er realisierte sich nicht: „Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei.“
Der 1. Mai wurde ein Tag zur individuellen Freizeitgestaltung. Das begann sich erst wieder zu ändern, als Globalisierung, Rationalisierung und Flexibilisierung um sich griffen. Der in den alten Mai-Liedern besungene „Mann der Arbeit“ wachte bedröppelt auf, erkannte aber erst einmal nicht seine Macht, sondern seine Ohnmacht. Der 1. Mai stand in der postindustriellen Gesellschaft zunächst mal da wie übrig geblieben aus einer alten Welt, in der die Arbeit noch mehr Wert und Kraft gehabt hatte. Er war wie ein Maiglöckchengruß an alte Zeiten. Das hat sich geändert, als Hartz IV kam und als die finanzkapitalistischen Spekulationsblasen platzten. Die Sorge vieler Menschen vor einem Abrutschen in prekäre Verhältnisse wuchs und weckte neue Widerständigkeit. Und jetzt, 2021, hat Corona, hat das Home-Office ein neues Nachdenken über die Zukunft der Arbeit geweckt.
Für die Gewerkschaften war es wieder ein vergleichsweise stiller erster Mai in diesem Jahr. Statt der ganz großen und rabauzigen Kundgebungen gab es, zum Beispiel, Gottesdienste. Ich habe in Bremen, in der Stadtkirche „Unser Lieben Frauen“, eine Kanzelrede halten dürfen: „Wie geht es weiter nach einem Jahr Corona“, war das Thema. Kirchen und Gewerkschaften hatten zum ökumenischen Gottesdienst eingeladen.
Etwas Besseres als den Tod
Direkt vor dem Eingang der Kirche steht das Denkmal mit den Stadtmusikanten. Sie kennen den berühmten Satz, sie kennen das Motto, mit dem sich im Märchen Esel, Hund, Katze und Hahn auf die Wanderschaft nach Bremen machen: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ Ich hatte deshalb nach Bremen eine bayerische Geschichte über das Leben und den Tod mitgebracht – die Geschichte vom Brandner Kasper, die zigtausendmal als Theaterstück aufgeführt und einige Male verfilmt wurde.
Diese Geschichte hat gerade Jubiläum, sie ist 150 Jahre alt, sie wurde 1871 erstmals in den Fliegenden Blättern veröffentlicht. Sie stammt von Franz von Kobell und geht so: Zum Brandner Kaspar, einem rüstigen 74-jährigen Mann, kommt der Tod in Person, als Boandlkramer, wie der im Dialekt heißt. Der Brandner Kasper, ein Filou, lädt diesen Boandlkramer zum Kartenspielen ein, betrügt ihn dabei und ergaunert sich unter Einsatz von viel Kirschwasser zusätzliche Lebensjahre und die Zusage, dass der Tod ihn erst mit 90 Jahren holt.
Der illegale Handel wird aber nach einigen Jahren aufgedeckt – und auf Befehl des Heiligen Petrus begibt sich der Boandlkamer wieder an den Tegernsee, um den längst Überfälligen nun endlich und endgültig abzuholen. Der Brandner Kasper hat inzwischen sehr unter den schlechten Zeiten gelitten. Dennoch will er dem Tod nicht folgen. Er lässt sich nur dazu überreden, einmal einen kurzen Blick ins Jenseits zu werfen. Aber: Dieser Blick überzeugt ihn – und er bleibt dort.
Blick in die Zukunft
Was hat das mit Corona zu tun? Für viele Menschen war, für viele Menschen ist Corona so etwas wie eine unzeitige, eine vorzeitige Begegnung mit dem Tod. Der Einsatz diverser Mittel, um dem Tod zu entgehen, war und ist freilich, anders als in der genannten Geschichte vom Brandner Kaspar, gar nicht lustig, es ist nicht Kartenspiel und Kirschwasser. Das Leben in der langen Corona-Zeit mit all ihren Beschränkungen, mit all den Veränderungen des Lebens, ist beschwerlich. Den Brandner Kasper hat der Blick in das Jenseits der beschwerlichen Wirklichkeit begeistert und überzeugt. Der Blick ins Jenseits der coronalen Wirklichkeit macht nicht unbedingt Freude.
Kirchen und die Gewerkschaften zum Beispiel können von dem coronalen Blick in die Zukunft nicht so begeistert sein. Die leeren Kirchen während des Lockdowns könnten zum Sinnbild für die nahe Zukunft der Kirche werden: Steht die große Leere bevor? Wird sich das System Religion als der eigentliche Verlierer der Corona-Krise erweisen? Tut das den Menschen gut? Für die Gewerkschaften stellt sich die Frage, wie die Zukunft der Arbeit aussieht: Findet die Erwerbsarbeit mehr und mehr außerhalb eines Betriebes statt? Besteht die Zukunft der Arbeit in leeren Büros, im Home-Office und im Crowd-Working all over the world? Tut das den Menschen gut?
Einen Tag lang ernähren
Im Gottesdienst zum 1. Mai, von dem ich Ihnen erzähle, wurde die Lesung von den Arbeitern im Weinberg vorgetragen. Sie steht beim Evangelisten Matthäus – und handelt vom Hausherrn, der am Morgen Arbeiter einstellt, die seinen Weinberg bestellen. Er vereinbart mit ihnen einen Tageslohn von jeweils einem Denar; ein Denar reicht gerade dazu aus, die Familie eines Arbeiters einen Tag lang zu ernähren. Der Weinbergbesitzer geht nach jeweils drei Stunden weitere drei Mal und zum Schluss nach elf Stunden letztmals auf den Marktplatz, um Arbeiter einzustellen. Am Ende des Arbeitstages, nach zwölf Stunden, bezahlt er zuerst den zuletzt Eingestellten einen Denar – denen also, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Auch alle anderen erhalten diesen Lohn. Die Arbeiter, die den ganzen Tag gearbeitet haben, beschweren sich darüber.
Es ist dies ein Gleichnis über Gerechtigkeit. Ist es gerecht, wenn ein Arbeiter von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Weinberg geschuftet hat für einen Silbergroschen – und dann kommt ein anderer Arbeiter erst kurz vor Feierabend und bekommt dasselbe? Ist es gerecht, wenn eine Frau sich heute mit vier Putzstellen über Wasser hält und eine andere das nicht tut und Arbeitslosengeld bekommt?
Der Habenichts und der Habewenig
Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg kommt es zum Protest. Die einen zeigen mit den Fingern auf die anderen. Also: Der erste Arbeiter zeigt auf den letzten Arbeiter, die Putzfrau zeigt auf die Arbeitslose. Warum? Ihr Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt. Man kann sie verstehen. Aber es gibt etwas, was mir unsympathisch ist an diesem Protest: Mir wäre es lieber, wenn da nach oben protestiert würde, wenn also die viel arbeitenden Leute mehr Geld, wenn sie einen Zuschlag verlangen würden. Nein, das tun sie nicht. Sie treten nach unten und protestieren gegen die Gleichstellung der anderen. Statt sich zu freuen, dass der Habenichts auch satt wird, schimpft der Habewenig über die Gleichmacherei.
Das Gleichnis vom Weinberg will die Verrücktheiten solchen Gegeneinanders aufdecken und zur Solidarität ermuntern. Jeder kriegt das, was er braucht – das tägliche Auskommen. Egal, wann er gekommen ist, woher er kommt, wie viel er getan hat. Einfach nur, weil sie Menschen sind.
Die Verteilung der Belastungen
Einfach nur, weil wir Menschen sind. Das führt mich zu Corona, das führt mich zu den Einschränkungen der Grundrechte. Grundrechte haben wir, einfach deswegen, weil wir Menschen, weil wir Bürgerinnen und Bürger sind. Wir müssen sie uns nicht durch Leistung, nicht durch Wohlverhalten verdienen. Wenn sie also eingeschränkt werden, weil so das Virus bekämpft werden soll, muss das mit Sorgfalt geschehen und die Belastungen müssen gerecht verteilt werden – die Belastungen dürfen nicht einseitig den kleinen Freiberuflern, den Gastwirten, den Kulturschaffenden und den Jugendlichen auferlegt werden.
Wenn junge Menschen nicht mehr in die Schulen, nicht mehr an die Unis dürfen, wenn auch noch die Sportstätten und die Gastronomie geschlossen sind – welche Räume verbleiben jungen Menschen dann noch? Sie dürfen durch die Akkumulation der Pandemiemaßnahmen nicht zu einer fast schon kontaktfreien Generation verdammt werden. Und Familien dürfen durch die Schließung von Schulen und Kitas nicht in den Wahnsinn getrieben werden. Kitas und Schulen gehören zu den unglaublich wichtigen Lern- und Lebensorten. Dieser gemeinsame Raum des miteinander und voneinander Lernens ist der größte und beste Pädagoge. Mit Distanzunterreicht kann man ihn nicht herstellen, so verschärft man die Bildungsungleichheit. Das gefährdet die Zukunft der Kinder und die Zukunft der Gesellschaft.
Was jeder braucht – demokratische Grundnahrungsmittel
Es geht also um die gerechte Verteilung gesellschaftlich geschuldeter Solidarität, um gerechte Verteilung der Lasten. Grundrechte sind die Kernelemente, die Fixpunkte einer solidarischen Gesellschaft. Grundrechte sind ein Grundnahrungsmittel zum Leben. Auch in der Krise braucht jeder und jede das, was er zum Leben nötig hat. Das war, das ist mein Motto zum 1. Mai.
Einen guten, einen zuversichtlichen Maianfang wünscht Ihnen
Ihr
Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung