„Hier ist die Ukraine. Hier ist Europa. Hier ist das Jahr 2022“: Wie man sich mit Charisma gegen den russischen Goliath wehrt. Und warum eine alte Legende der Fortschreibung bedarf.

Von Heribert Prantl

Das Jagdschloss Grunewald ist der älteste noch erhaltene Schlossbau in Berlin. Es beherbergt zahlreiche Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren, darunter das großformatige Bild „David kämpft gegen Goliath“. Es gehört zu den sogenannten Exemplum-Tafeln des Kurfürsten Joachim II., auf denen die großen Tugenden exemplarisch dargestellt werden – nämlich ­Mut, Mäßigung, Gerechtigkeit und Weisheit. Das David-und-Goliath-Gemälde steht für Tapferkeit und Mut.

Es illustriert eine Erzählung aus dem Alten Testament, genauer aus dem 1. Buch Samuel, die davon handelt, wie David den Riesen Goliath, den Feldherrn der Philister, besiegt. Der Hirtenjunge David, der eigentlich nur seinen Brüdern, die im Heer der Israeliten dienten, Brot und Käse bringen sollte, ertrug die lästerlichen Verhöhnungen des Goliath nicht; er tötete den in Bronze und Eisen gepanzerten Vorkämpfer der Philister mit einer einfachen Steinschleuder. Genau das ist die Szene aus Lucas Cranachs Werkstatt: Den Vordergrund des Schaubilds nimmt der in seiner Rüstung am Boden liegende Goliath ein. Über ihm steht David, den rechten Fuß auf dessen Schambereich gesetzt.

David und Goliath: Wenn man das Bild sinnierend betrachtet, meint man im Gesicht des jungen David den ukrainischen Präsidenten Selenskij zu erkennen – weil man die Nachrichten von Putins Krieg, von Putins Lügen und von Putins Verbrechen im Kopf hat und weil der Wunsch der Vater des Gedankens ist: Man sieht den gepanzerten Goliath gestürzt und den David in siegreicher Pose. Im Bild von Cranach liegt die Steinschleuder bereits abseits am Boden, sie spielt schon keine Rolle mehr.

Selinskijs Schleuder ist das Handy

So ist es in der politischen Gegenwart nicht. Wolodimir Selenskijs Schleuder ist sein Handy, sein Satellitentelefon. Und er macht daraus seine digitale Waffe – mit der er Putin nicht direkt, aber indirekt trifft. Er nutzt das Internet mit einer Virtuosität sondergleichen. So wurde er zum Idol, zum Freiheitshelden, zum Staatsmann. Mithilfe des Internets ist er überall, auf Twitter, Facebook, Instagram, Telegram, Viber. So spricht er zu seinen Landsleuten, so spricht ihnen Mut zu, so spricht er zur ganzen Welt: „Hier ist die Ukraine. Hier ist Europa. Hier ist das Jahr 2022.“ Und so fordert er umfassende Hilfe: „Das mit Raketen, Bomben und Artillerie bewaffnete Böse muss sofort gestoppt werden.“

Er wirbt, er agitiert, er beeindruckt mit Mut und Tapferkeit, er gewinnt den Westen für bisher nie gekannte Sanktionen gegen Russland und für militärische Hilfe. Aus einem Präsidenten, der von ein paar Monaten noch politisch bankrott war, ist ein Mann mit Charisma geworden. Das ist eine Gabe, die ungeheuer viel wert ist und die er souverän ausspielt – und mit der er die militärische Unterlegenheit der Ukraine zu kompensieren versucht. Und es ist, als ob es ihm, jedenfalls zeitweise, gelänge. Und so steht gegen die analoge Übermacht Putins nicht nur der unterlegene militärische Widerstand der Ukraine, sondern auch die digitale Raffinesse von Selenskij, der die Sympathien der Weltöffentlichkeit auf seiner Seite hat.

Der Mann ist ein ehemaliger Schauspieler, aber er schauspielert nicht. Er spielt den Präsidenten nicht, er ist es, weil er seinen Bürgern Halt gibt. Er spricht mit der Autorität tapferer Selbstbehauptung und mit dem Mut der Verzweiflung, dem man die Verzweiflung nicht anmerkt, weil er in sich ruht. So spricht er mit den 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, so spricht er zu den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die ihm stehend applaudierten; so wird er zu den Abgeordneten des Bundestags sprechen. Er setzt auf die Macht der Bilder, der Bilder von den Zerstörungen, die Putins Soldaten anrichten. Und er setzt auf die Macht der Bilder, die er selbst produziert, wenn er auf einem wackeligen Holztisch den Aufnahmeantrag an die Europäische Union unterschreibt.

Der heilige Zorn der Weltöffentlichkeit

Er bettelt nicht um ein Eingreifen der Nato, er bettelt nicht um die umgehende Aufnahme seines Landes in die EU – er fordert das, mit verantwortungsbewusster Würde und einem fast sakralen Stolz. Und er muss das tun, weil er alles tun muss, um Putins Angriffe abzuwehren. Er muss diese Forderungen stellen, auch wenn er ahnt, dass sie nicht erfüllt werden, weil er weiß, dass solche Forderungen sein Land zusammenhalten. Und sie führen ja auch dazu, dass vom Westen, von der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, sehr viel mehr gewährt, zugebilligt und sanktioniert wird, als man dort eigentlich beabsichtigt hatte (wie die umfassenden Sanktionen und die umfassenden Militärhilfen zeigen).

Es gibt einen guten, einen heiligen Zorn im Westen gegen Putin, aber trotzdem und gerade deswegen ist es wichtig, kühlen Kopf zu behalten. Eine Flugverbotszone über der Ukraine zu errichten, also ein Abschussgebiet, wie es Selenskij fordert, wäre eine Kriegserklärung der Nato an Russland – so hat es der Londoner Historiker Adam Tooze im SZ-Interview warnend erläutert. Das wäre das Unterfangen, ein Feuer mit Benzin zu löschen. Dann wären die letzten Dinge noch schlimmer als die ersten.

Und es wäre Wahnsinn, die Ukraine aus Mitleid schnell in die EU hereinzuwinken; das Charisma Selenskijs kann nicht verdecken, dass sein Land die Aufnahmekriterien hinten und vorne nicht erfüllt. Das ist leider so, und das wird sich so schnell nicht ändern. Aber es hat trotzdem einen guten Sinn, dem Land eine europäische Perspektive zu geben. Die Wegweiser für die Ukraine nach Europa sollen und müssen aufgestellt werden. Eine erste kleine Geste der Wegweisung wäre es, Selenskij im Mai den außerordentlichen Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen zu verleihen – so wie das eine große Gruppe von Europaabgeordneten vorgeschlagen hat.

Von Karl dem Großen zu Wolodimir Selenskij

Der Karlspreis ist eine Auszeichnung, die für den Traum vom geeinten Europa steht, ein Preis, der an das das Wirken Karls des Großen anknüpfen soll; es ist ein Preis, den die großen Architekten und Baumeister Europas erhalten haben – Robert Schuman, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Helmut Kohl. Es ist ein Preis, den europäische Hoffnungsträger erhalten haben – Gyula Horn, Václav Havel, Bronisław Geremek. 1955 hat Winston Churchill die Auszeichnung erhalten, der in seiner berühmten Züricher Rede von 1946 den Begriff der „Vereinigten Staaten von Europa“ geprägt hatte. Ein russisches Internetmagazin hat, bevor es von Putin abgeschaltet wurde, Selenskij so beschrieben: „Ein Komiker, der sich in einen Churchill verwandelt hat.“ Einen außerordentlichen Karlspreis, wie ihn Selenskij erhalten sollte, hat bisher nur einer erhalten: Papst Johannes Paul II. Gewiss: Es ist, es wäre nur ein Signal. Aber solche Signale sind wichtig.

Wenn man vom Traum Europa spricht und vom Karlspreis, der für diesen Traum steht – dann darf man das Bild von David und Goliath weiterträumen: Aus dem Hirtenjungen David wurde bekanntlich ein glanzvoller König. Auf die Gegenwart angewendet hieße das: Aus dem jungen ukrainischen Präsidenten Selenskij wird in fünfundzwanzig Jahren ein dann 69-jähriger Präsident der EU-Kommission. Träume, gewiss. Aber die Geschichte von David und Goliath bedarf der Fortschreibung.


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