Von den Wirrungen der Friedenssuche: Erinnerungen an den israelischen Aktivisten Uri Avnery, der kurz vor dem Hamas-Massaker hundert Jahre alt geworden wäre.

Von Heribert Prantl

Er stand auf der Bühne wie ein Prophet, schlank, weißhaarig und weißbärtig, mit ausgebreiteten Händen und mit eindringlicher Stimme, seine Rede war wie ein langer Psalm. Es war, als wollte er den Naturgewalten gebieten: Sturm sei still, Wasser geh zurück. 74 Jahre war er damals alt, es war bei der Verleihung des Aachener Friedenspreises an ihn am 1. September 1997. Er predigte für den Frieden im Nahen Osten, er tat es mit aller Inbrunst und mit zorniger Weisheit. Der israelische Publizist und Politiker Uri Avnery warb, wie er es schon so oft getan hatte, für die Verständigung mit den arabischen Nachbarn und mit den Palästinensern, er warb für gegenseitigen Gewaltverzicht, er warb für den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten; er warb für das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und für Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt. Politischen Erfolg hatte er damit nicht, aber viele Preise hat er erhalten, zumal in Deutschland. Er zitierte den zwei Jahre vorher von einem jüdischen Fanatiker ermordeten Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin mit dem Satz: „Verhandlungen führen, als gäbe es keinen Terror“. Dieser Satz hat sich mir eingebrannt – weil er klang wie das anspruchsvollste der zehn Gebote und weil er paradox weitergeht: „… und den Terror bekämpfen, als gäbe es keine Verhandlungen“.

Lebenslang im Widerspruch

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober frage ich mich, ob und wie Uri Avnery heute diesen Satz zitieren würde. Würde er angesichts des hemmungslosen antisemitischen Vernichtungswillens, der sich da ausgetobt hat, immer noch behaupten, man könne verhandeln, als gäbe es keinen Terror? Oder würde er alles daran setzen, den Terror zu bekämpfen, bevor überhaupt wieder ans Verhandeln gedacht werden kann?

Uri Avnery, der israelische Sisyphos, Friedensaktivist, Visionär, Politiker, Journalist und Schriftsteller, wäre wenige Tage vor diesem Massaker hundert Jahre alt geworden. HaGalil, das jüdische Online-Magazin in deutscher Sprache, hat soeben die Erinnerung an den Mann, der anfangs politisch sehr rechts und dann lange sehr links war, mit „Lebenslang im Widerspruch“ überschrieben: „Er stand immer im Widerspruch zu allen Mächtigen in Israel, seit der Staatsgründung.“ Er war 1965, mit 42 Jahren, als Parlamentarier in die Knesset eingezogen, hielt dort tausend Reden, von denen hundert die Anerkennung eine palästinensischen Staates forderten.

Das Sandburgen-Projekt

An Uri Avnery, der 2018 im Alter von fast 95 Jahren in Tel Aviv gestorben ist, dachte ich immer wieder seit dem grauenvollen Überfall der Hamas auf Israel. 1997, vor 26 Jahren, habe ich ihm die Laudatio halten dürfen bei der Verleihung des alternativen Friedenspreises in Aachen; Avnery wurde damals ausgezeichnet zusammen mit der von ihm gegründeten Friedensbewegung Gusch Schalom. Ich hatte damals, im Sommer 1997, in den Ferien mit meinen Kindern am Meer Sandburgen gebaut – und zur Vorbereitung auf die Laudatio zum Aachener Friedenspreis die Bücher von Uri Avnery gelesen; das hat gut zusammengepasst. Wir haben gebuddelt und Türme und Mauern aufgehäuft, und wie das halt im Sand so ist: Dann geht die Flut darüber und vom stolzen Bauwerk bleibt nur ein kleiner Sandhügel übrig.

Der Friedensidee im Nahen Osten, so sinnierte ich, ergeht es wie den Sandburgen. Die Politik spült darüber hinweg, jeden Tag, Jahr für Jahr – und trotzdem hat Uri Avnery nie aufgegeben, trotzdem hat er immer und immer wieder neu an seinem israelisch-palästinensischen Versöhnungsmodell gebaut. Als einst Golda Meir verkündete, es gäbe überhaupt kein palästinensisches Volk, hat Avnery den israelisch-palästinensischen Staatenbund proklamiert. Als Jassir Arafat der Haupt- und Erzfeind Israels war, hat Avnery ihn im bombardierten Beirut besucht. Uri Avnery war stolz, als die israelische Friedensbewegung kurzzeitig von Hunderttausenden getragen wurde; so war es 1982 nach den Massenmorden in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila. Und Avnery hat es ausgehalten, als diese Friedensbewegung keine Bewegung mehr war, sondern nur noch ein Häuflein, geschmäht und verachtet.

Unruhe um einen Friedfertigen

Don Quichotte, Sisyphos, Abgeordneter, Visionär, Veteran, Staatsfeind, Volksheld, Nestbeschmutzer und Prophet: Avnery war alles miteinander. Er hat Verhaftungen und Mordaufrufe ertragen. Wie hält er das aus, habe ich mich damals, in meiner Aachener Laudatio, gefragt und versucht die Antwort darauf zu geben: „Weil sein Glaube an die Idee von einer gemeinsamen israelisch-arabischen Region stark genug ist, um Berge, Raketenstellungen und vielleicht sogar einen Netanjahu zu versetzen“. Netanjahu war auch damals, 1997, israelischer Ministerpräsident; derzeit ist er es zum sechsten Mal.

Nahost-Politik: Hoffnungen waren in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen und wurden wieder weggeschwemmt oder erschossen. Friedensnobelpreise wurden verteilt und nicht eingelöst. Die amerikanischen Friedensvermittler kamen und gingen. Die arabischen Diktatoren spielten die üblichen Spiele. Wenn die Hamas Ruhe gab, feuerte die Hisbollah, angefeuert von Iran. Avnery aber war immer da mit seinem Plan, an dem er nie etwas ändern musste, weil er immer stimmte: Es ist der Plan von zwei Völkern in zwei Staaten. Würde er ihn heute ändern, würde er ihn jetzt für objektiv unmöglich halten oder würde er, nach dem Hamas-Massaker, mit dem Mut der Verzweiflung und der Kraft der immerwährenden Hoffnung daran festhalten?

Das Nessos-Gewand

1988 publizierte er ein Buch über seine Kontakte mit der PLO, es hieß „Mein Freund, der Feind“. 1991 schrieb er ein Buch mit dem Titel: „Wir tragen das Nessos-Gewand“. Das war eine Anspielung auf die klassische griechische Sage: Das Hemd des Helden Herakles war mit dem vermeintlichen Liebeszauber des Kentauren Nessos getränkt; der Held konnte es dann, weil es vergiftet war, nicht mehr ausziehen und starb elendiglich. Die von Israel besetzten Gebiete seien, so Avnery, wie das Nessos-Gewand, von dem die griechische Sage erzählt. Avnery warnte vor dem Gift der Besatzung, das bereits „alle Organe des israelischen Volkskörpers infiziert“ habe.

Als Sohn eines jüdischen Bankiers wurde Uri Avnery vor hundert Jahren im westfälischen Beckum geborgen, damals mit dem Namen Helmut Ostermann. Er ging zusammen mit dem späteren Spiegel-Gründer Rudolf Augstein in eine Klasse – am Kaiserin-Auguste-Victoria-Gymnasium in Hannover. Die beiden freundeten sich an, begleiteten einander auf dem Heimweg, besuchten sich gegenseitig. Die Familie Ostermann floh vor den Nazis aus Deutschland, emigrierte nach Palästina. In den nächsten 25 Jahre hatten die beiden keinen Kontakt mehr, nur durch Zufall trafen sie sich wieder – Rudolf Augstein war immer noch Rudolf Augstein, Helmut Ostermann hatte seinen Namen hebraisiert in Uri Avnery.

„Unaufhörliche Penetranz“ im Kampf für den Frieden

In der Zwischenzeit waren die beiden Herausgeber von Nachrichtenmagazinen geworden, die beide nach dem Muster der amerikanischen Time gestaltet waren. Zum Tod von Rudolf Augstein schrieb Avnery dann 2002 im Spiegel, Heft 46, ein Stück mit dem Titel: „Schalom, Rudi, mein Freund“. Dort erinnert er unter anderem an die journalistischen Gemeinsamkeiten: „Wir beide lagen im heftigen Streit mit unseren Regierungschefs, den zwei Gründungsvätern Adenauer und Ben-Gurion. Wir beide hatten Krach mit unseren Verteidigungsministern, Strauß in Deutschland und sein Freund Schimon Peres in Israel. Wir beide wurden verhaftet, bei ihm gab es Durchsuchungen, bei uns Bomben. Und dann, etwas später, wurden wir beide ins Parlament gewählt. Er hielt es nur kurze Zeit im Bundestag aus, ich insgesamt zehn Jahre in der Knesset. Er war für die Ostpolitik, ich war – und bin – für Versöhnung mit den Palästinensern.“

In seinem letzten Lebensjahrzehnt hat sich Avnery immer wieder für die Einmischung der Europäer in den Nahost-Konflikt eingesetzt. Bei der Verleihung des Ossietzky-Friedenspreises in Oldenburg im Jahr 2002 meinte er, die USA seien nicht imstande, einen Frieden herbeizuführen. Damit entstehe ein Vakuum, das nur die EU füllen kann. Seine Kritiker haben Avnery „unaufhörliche Penetranz“ attestiert. Das klingt missgünstig. Aber das ist kein schlechtes Attribut, wenn es um den Frieden geht. Man wünscht sich, Avnery hätte ein Heer von Nachfolgern. Und man wünscht den Palästinensern , sie hätten ihre Avnerys, die der Gewalt der Hamas öffentlich widersprechen. Allerdings, das ist der Unterschied zu Kritikern der israelischen Regierung: Sie würden nicht lange leben.


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