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Sebastian Kurz hat seinen zeitweiligen Rückzug erklärt. Es ist kein richtiger Rückzug. Es ist nur ein Rückzug aus dem Bundeskanzleramt ins Parlament, wo er als Fraktionschef und ÖVP-Vorsitzender die Fäden in der Hand behalten will. Es ist dies, wie aus der Partei verkündet wird, ein „Schritt zur Seite“. Dieser Schritt zur Seite soll dazu führen, dass die Vorwürfe an ihm vorbeirauschen.

Ein Hauch von Reue?

Wenn sie, wie Kurz hofft, vorbeigerauscht sind, will er bei der nächsten Wahl ein triumphales Comeback inszenieren. Das steht nicht in seiner Rücktrittsrede, aber das gehört zum Spielplan. Ein kleiner Hauch von Reue gehört auch dazu. Dieser Hauch hat den Mundgeruch von Heuchelei, denn er bezieht sich nicht auf die unbestrittenen Taten, die die Ermittler zahlreich und säuberlich auflisten und die sich auch aus einem umfangreichen Mail- und SMS-Verkehr ergeben. Wegen dieser Taten werfen sie dem Kanzler und dem Team Kurz Korruption und Missbrauch von Befugnissen vor. Die kurze Reue bezieht sich nur auf den Ton der Kurznachrichten, auf die Fäkalsprache und die Beleidigungen, die es da gibt: Da fliegt der „Oasch“ und der „Arsch“ – bezogen auf Kurzens politische Vorgänger – hin und her. Darauf versucht Kurz nun seine Unanständigkeit zu reduzieren: Das seien „… Nachrichten, die ich so definitiv nicht noch einmal formulieren würde, aber ich bin auch nur ein Mensch mit Emotionen und auch mit Fehlern“.

Ich habe mir, aus gegebenem österreichischen Anlass, die Wahlkampagnen von Sebastian Kurz noch einmal angeschaut: Da lächelt ein junger, etwas pomadiger Mann von den Plakaten und verspricht einen neuen Stil: „Kurz 2017“, steht da, die „0“ ist angekreuzt, als Aufforderung, es auf dem Wahlzettel auch so zu halten. Darunter steht der dicke Slogan: „Ein neuer Stil. Es ist Zeit.“ Sebastian Kurz war da 31 Jahre alt, er hatte versucht Jurist zu werden, war aber ohne Abschluss geblieben; er hatte, wie es in seiner Biographie heißt, die Politik dem Studium vorgezogen und war schon seit vier Jahren ein sehr netzwerkstarker, ein sehr umtriebiger und sehr machtbewusster Außenminister.

Ein neuer Stil. Es ist Zeit.

Er hatte Reinhold Mitterlehner als Vorsitzenden der Österreichischen Volkpartei ÖVP abgelöst und nach Hause geschickt. „Parteiobmann“ wird dieses Amt in Österreich genannt. Der frischgewählte Parteiobmann Kurz hatte aber mit der alten Partei nicht so viel im Sinn, für ihn war sie das „Team Kurz“. Er setzte also die ÖVP in Klammern, trat unter dem Namen „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei (ÖVP)“ und mit einer raffinierten Kampagne zur Nationalratswahl an. Daraus ging seine „Liste Sebastian Kurz“ als stimmenstärkste Partei hervor. Kurz wurde Bundeskanzler der Republik Österreich und begann mit der Rechtsaußenpartei FPÖ zu regieren. Was seitdem an Seltsamkeiten bekannt wurde, geht, wie man so sagt, auf keine Kuhhaut.

„Ein neuer Stil. Es ist Zeit“: Dieser neue Stil war, der neue Stil ist ein sehr befremdlicher Stil. Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption hält ihn für schwer kriminell. Sie wirft dem Team Kurz, auch Sebastian Kurz persönlich, schwere Straftaten vor – Straftaten, die nach dem österreichischen Strafgesetzbuch als Verbrechen bestraft werden. Sie hat deswegen Razzien im Kanzleramt, im Finanzministerium und in der Parteizentrale der ÖVP durchgeführt. Es geht um schwere Untreue zu Lasten der Republik Österreich, es geht um Bestechlichkeit, es geht um Falschaussagen. Was die Staatsanwaltschaft auf ihren insgesamt 104 Seiten an Fakten auflistet, ist nicht nur erschreckend, es ist ungeheuerlich.

Fake-News mit Steuergeldern

Man blickt in einen Abgrund von Demokratieverrat. Dieser Abgrund wird von den Ermittlern sauber ausgeleuchtet und penibel kartiert. Aus dem von der Staatsanwaltschaft sichergestellten Fundus von einigen hunderttausend Chatnachrichten wird offenbar und offensichtlich, dass das Team Kurz manipulierte Meinungsumfragen gekauft hat; diese Manipulationen werden aufgelistet. Aus diesen manipulierten Meinungsumfragen wurden dann gekaufte Serien von kurznützlichen Texten gestrickt; diese werden von der Staatsanwaltschaft auch aufgelistet. Diese Fake-Stücke wurden im reichweitenstarken Boulevardkosmos des Verlegers Wolfgang Fellner publiziert, zu dem ein Fernsehsender gehört und das Massenblatt Österreich. Bezahlt wurde das alles: mit Steuergeldern, aus dem Haushalt des Finanzministeriums.

Auf diese Weise wurde Reinhold Mitterlehner, der Vorgänger von Kurz im Amt des Parteiobmanns, niedergeschrieben und niedergesendet; auf diese Weise wurde Sebastian Kurz zu seinem Nachfolger hochgeschrieben und hochgesendet. Wenn manche einwenden, dazu habe es damals wegen Mitterlehners Unbeliebtheit gar nicht solcher Tricksereien bedurft, macht es diese nicht besser. Auf diese Weise wurde der Wahlkampf von Kurz, der ihn ins Kanzleramt am Ballhausplatz führte, höchst wohlwollend und manipulativ begleitet. „Projekt Ballhausplatz“ heißt das in den Unterlagen des Teams Kurz, die die Staatsanwaltschaft sichergestellt hat. Von korruptiver Verstrickung der politischen Akteure, also des Teams Kurz, mit einem Medienherausgeber spricht daher die Staatsanwaltschaft.

Schwere Untreue

Wenn das stimmt (und die von der Staatsanwaltschaft aufgelisteten Fakten sprechen eine klare Sprache) handelt es sich um einen dreifachen GAU: Erstens um einen GAU für die Demokratie, zweitens um einen GAU für den Rechtsstaat. Und es handelt sich drittens um einen GAU für die Pressefreiheit – weil sich, wie es die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft nahelegen, ein Verleger zum Mietling des Teams Kurz hat machen lassen: Frisierte und verfälschte Inhalte wurden zur Manipulation der öffentlichen Meinung verwendet – bezahlt mit Steuergeldern, aus dem Haushalt des Finanzministeriums. Strafrechtlich firmiert ein solches Vorgehen als Verbrechen der Untreue in einem besonders schweren Fall nach Paragraf 153 des österreichischen Strafgesetzbuchs. Das ist, so steht es im Absatz 3, „mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen“. Wegen solcher Straftaten wurden einem früher „die bürgerlichen Ehrenrechte“, also das Wahlrecht und Wählbarkeit, entzogen.

Übernahme der Kontrolle

Die neuen Vorwürfe, wegen derer Kurz jetzt auf Druck seines grünen Regierungspartners zurückgetreten ist, kommen zu den alten hinzu: Am 6. Mai 2021 informierte die Korruptionsstaatsanwaltschaft den Kanzler Kurz davon, dass er im Zusammenhang mit der Ibiza-Affäre als Beschuldigter gilt. Die Ibiza-Affäre war von der Süddeutschen Zeitung und vom Spiegel aufgedeckt worden: Heinz-Christian Strache, bis zur Affäre FPÖ-Vizekanzler in der Regierung Kurz, und Johann Gudenus, bis dahin Nationalratsabgeordneter und geschäftsführender FPÖ-Klubobmann, hatten sich mit einer angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen in einer Villa auf der spanischen Insel Ibiza getroffen. Dabei hatten sie in stundenlangen Gesprächen und Verhandlungen ihre Bereitschaft zur Korruption und zur Umgehung der Parteifinanzierungs-Gesetze erklärt – und dabei auch von der Übernahme der Kontrolle über parteiunabhängige Medien schwadroniert. Kanzler Kurz werden von der Staatsanwaltschaft Falschaussagen in diesem Zusammenhang vorgeworfen. Die weiteren Ermittlungen weisen nun darauf hin, dass er womöglich nicht nur falsch ausgesagt hat; sondern dass er das, worüber Strache und Gudenus schwadroniert haben, selber praktiziert hat – wenn die Vorwürfe zutreffen. Man wünscht sich, im Interesse von Demokratie, Rechtsstaat und Pressefreiheit, dass sie nicht zutreffen. Angesichts der Dichte der Fakten gibt es aber da wenig Hoffnung.

Bestimmungstäter

In Österreich gilt das Prinzip der Einheitstäterschaft. Das heißt: nicht nur der unmittelbare Täter begeht die strafbare Handlung, „sondern auch jeder, der einen anderen dazu bestimmt, sie auszuführen, oder der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt“. Als Täter wird also auch jemand bezeichnet, der einen anderen zu seiner Straftat bestimmt, also anstiftet; er ist ein „Bestimmungstäter“. Als Täter wird auch jemand bezeichnet, der ihm nur geholfen und zur Tat beigetragen hat; er ist ein Beitragstäter. Das kann dem Politiker Kurz das Kreuz brechen. Im Fernsehinterview der Nachrichtensendung „Zeit im Bild 2“ hat er vorgegeben, nicht zu wissen, welche Mitarbeiter da irgendwo und irgendwie tätig geworden sind. Er tat so, als habe er mit alledem nicht so richtig was zu tun, als würde sich das alles ohnehin irgendwann in Luft auflösen. Das wird nicht so sein. Die Versuche von Kurz, das alles zu verharmlosen, sind verständlich – aber, wie das die Juristen nennen, eine „Protestatio facto contraria“. Das heißt: Der Versuch der Verharmlosung steht im Widerspruch zu den Fakten.

Kurz hat am Samstagabend wieder gejammert, man könne sich vorstellen, dass er persönlich dankbar wäre, „wenn die Unschuldsvermutung tatsächlich für alle Menschen gelten würde“. Dies sind Krokodilstränen. Natürlich gilt für Kurz und Co. die Unschuldsvermutung. Ob und wie und wie streng die Taten zu ahnden sind – das muss erst noch geklärt werden; dafür gibt es die juristischen Verfahren. Aber eine politische Bewertung der Dinge darf und muss jetzt und nicht erst in Monaten getroffen werden; die Fakten liegen ja auf dem Tisch.

Der Ölprinz, Karl Kraus und die Unüberwindlichen

Es ist schon bemerkenswert, wie Kurz alles an sich abperlen lässt – er geriert sich, als sei er eingeölt, so dass Vorwürfe nicht an ihm nicht hängenbleiben können. Und wenn das nicht mehr gut funktioniert, dann tritt man vorübergehend einen Schritt zur Seite. Wohl deshalb ist mir die Bezeichnung eingefallen, die einst, es war zu Zeiten von Willy Brandt, Herbert Wehner, der angesehene und gefürchtete Fraktionschef der SPD, dem damaligen CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Candidus Barzel zugerufen hat, der Brandts Ostpolitik heftig attackierte. Wehner nannte Barzel damals den „Ölprinz“, wohl auch in Anspielung auf dessen gelacktes Aussehen.

Karl Kraus (1874-1936), der große österreichische Publizist, Schriftsteller, Satiriker und Dramatiker, würde sein Schlüsseldrama „Die Unüberwindlichen“ heute mit den Figuren aus dem Team Kurz bestücken. Es stammt aus den Jahren 1927/28 und handelt von journalistischer und politischer Korruption.

Wenn Kurz nun sein Kanzleramt kurzzeitig an seinen bisherigen Außenminister Alexander Schallenberg als Statthalter übergibt, um selbst als Partei- und Fraktionschef weiterhin die Fäden zu ziehen und bei der nächsten Nationalratswahl sein Comeback zu inszenieren – dann klingt das wiederum wie der Plot in einem Stück von Karl Kraus.

Das Gähnen der Österreicher

Karl Kraus hat sich übrigens furchtbar darüber erbost, mit welcher Wurstigkeit Österreicher auf Günstlings- und Vetternwirtschaft, Bestechlichkeit, Schmiererei und auf sonstige Verkommenheiten reagieren. „Wird in Österreich ein Verfassungsbruch begangen“, so schrieb er bitter, „gähnt die Bevölkerung“. Der Satz ist allerdings schon sehr alt. Er stammt aus der ersten Ausgabe von Karl Kraus‘ Fackel, also aus dem Jahr 1899. Womöglich hat sich da in über 120 Jahren doch etwas geändert.

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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