Mit der Wagenknecht-Partei sind extreme Temperaturschwankungen in der deutschen politischen Landschaft zu erwarten – so wie sie für die weltgrößte Wüste bezeichnend sind.

Von Heribert Prantl

Die meisten hielten sich für Kometen, sie waren aber nur Glühwürmchen: Die Geschichte der Neugründung von Parteien in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Glühwürmchengeschichte. Sie leuchten nicht lang. Manche schafften es zwar in kurzer Zeit in ein Parlament oder sogar in die Regierung, so wie vor zwei, drei Jahrzehnten in Hamburg die Statt-Partei und die Schill-Partei; aber selbst das war und ist keine Garantie für anhaltende Bedeutsamkeit. Es gibt nur drei wirklich erfolgreiche und bundesweit relevante Neugründungen in der Geschichte der Bundesrepublik: erstens die Grünen vor mehr als vierzig Jahren, zweitens die Linken (entstanden durch Verschmelzung der SPD-Abspaltung WASG und der PDS) vor 16 Jahren und drittens die AfD vor zehn Jahren.

Andere Neugründungen haben es, wenn sie Glück hatten und nicht ganz in der Bedeutungslosigkeit verschwanden, wenigstens ins Europäische Parlament gebracht – weil es dort keine Sperrklausel gibt. Das Europäische Parlament ist etwas ganz Besonderes, ein Weltwunder der Moderne. Es ist die einzige direkt gewählte supranationale Institution. Es ist ein Parlament, in dem originelle Köpfe sitzen, in dem die Kunst der vielsprachigen, der klaren und kurzen Rede herrscht, es ist ein Parlament, in dessen Gesichtern sich das Gesicht Europas findet. Es ist ein Diskussionsort für ungewöhnliche Ideen und auch ein Sanatorium für Kleinparteien.

Derzeit sind etwa 200 nationale Parteien im Europäischen Parlament vertreten, die von einem System von Fraktionen organisiert werden. Zuletzt zogen dort aus Deutschland neben den Bundestagsparteien noch weitere ein: Da ist die Partei des Martin Sonneborn von der Satirezeitschrift Titanic, die sich einfach „Die Partei“ nennt, da sind die Freien Wähler, da ist die Tierschutzpartei, da ist die ÖDP, da ist die paneuropäische Partei Volt, die Piratenpartei, und da ist die Familien-Partei Deutschlands.

Wagenknecht ex Machina

In diesem Europaparlament dürfte nach der Europawahl im Juni 2024 nicht so ganz klein die neue Partei der Sahra Wagenknecht sitzen, die jetzt im Gründungsstadium ist, die noch keinen richtigen Namen, aber ungeheuer viel Aufmerksamkeit hat. Für die Wagenknecht-Partei ist die Europawahl keine Sanatoriumswahl, sondern eine, die das Europaparlament als Sprungbrett nutzt. Vor der neuen Linksrechts-Wagenknecht-Partei fürchtet sich vor allem die Rechtsaußenpartei AfD. Dieser Wagenknecht-Partei wird nämlich von Politologen und Wahlforschern zugetraut, was einst der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hochstaplerisch versprochen hat: die AfD zu halbieren, jedenfalls in den neuen Bundesländern. Das wäre ein großer demokratischer Gewinn. Was immer man sonst politisch von Sahra Wagenknecht halten mag: Sie hat jedenfalls keine braunen Flecken, wie sie bei der AfD immer zahlreicher werden. Die AfD versucht, diese braunen Flecken mit einer Pseudo-Israel-Solidarität abzudecken. Es ist, wie die Neonazi-Sprüche von Björn Hocke zeigen, eine windige und heuchlerische Solidarität. Es besteht die Gefahr, dass die AfD bei weiter anhaltenden Wahlerfolgen Zugriff bekommt auf die Zentralbereiche des Rechtstaats, auf die Wahl von Landesverfassungsrichtern zum Beispiel. Das muss verhindert werden. Und ohne eine Wagenknecht ex Machina, ohne eine neue Partei, die erst einmal die öffentliche Aufmerksamkeit und dann die Wählerstimmen von der AfD abzieht, wird das auf die notwendige Schnelle nicht gelingen.

Es ist Sahra Wagenknecht in den vergangenen Tagen vorgeworfen worden, dass sie und ihre Partei noch kein Programm hätten. Das ist ein seltsamer Vorwurf. Von kaum einem anderen Politiker, von kaum einer anderen Politikerin ist so bekannt, was sie will. Gregor Gysi, der sich lange und vergeblich bemüht hatte, die bisherige Parteigenossin in der Linken zu halten, hat das Wagenknecht-Programm in einem Interview mit dem Spiegel pointiert wie folgt zusammengefasst: Sie „will Flüchtlingspolitik machen wie die AfD. Sie will Wirtschaftspolitik machen wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik wie die Linke“. Und ihr Vorprogramm, in dem sie mit der Politik von Linken, SPD und Grünen abrechnete, erreichte als Buch mit dem Titel „Die Selbstgerechten“ im Jahr 2021 immerhin Platz eins in der Bestellerliste des Spiegel. Das ist für eine politische Schrift spektakulär.

Wagenknecht inszeniert ihre neue Partei als Partei der kleinen Leute, so wie das ihr Ehemann Oskar Lafontaine zuerst mit der SPD im Großkonflikt mit Kanzler Gerhard Schröder vergeblich versucht hat – und dann noch einmal mit der von ihm mitgegründeten Partei die Linke. Die aber wurde dann in seinen Augen zu abgehoben, zu grün, zu kriegsfreundlich – sie ist für ihn eine Partei, die nicht mehr den Anspruch hat, „eine linke Alternative zur Politik sozialer Unsicherheit und Ungleichheit“ zu sein. Mit dieser Erklärung trat Lafontaine im März 2022 aus der Linken wieder aus. Seine Ehefrau folgt ihm jetzt und vertritt viele der Positionen, die Lafontaine seit jeher vertreten hat. Er könnte der heimliche Chefprogrammatiker und Ehrenvorsitzende ihrer neuen Partei sein.

Die Ballade von der Unbelehrbarkeit

Mit der Wagenknecht-Partei, deren Einzug in die ostdeutschen Landesparlamente im Herbst nächsten Jahres man für sicher halten darf, tritt nicht nur eine neue Linksrechts-Partei auf den Plan. Es kommt eine weitere Partei zur großen deutschen Anti-Flüchtlingskoalition hinzu. An die Spitze auch dieser Koalition hat sich kürzlich der SPD-Kanzler Olaf Scholz zu stellen versucht – in einem Interview, in dem er propagiert hat, „in großem Stil abschieben“ zu wollen. Da hat er Wagenknecht an seiner Seite. Deren Anti-Flüchtlingspolitik schließt an den Lafontaine-Populismus von vor dreißig Jahren an. Damals war Lafontaine der Erste aus der Führung der SPD, der die Änderung des Grundrechts auf Asyl gefordert hatte; diese Forderung und die exzessiven Auseinandersetzungen, die es darüber gab, führten damals zu einem leicht entflammbaren und anschlagsträchtigen Klima im Land. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Aber gelernt hat die Politik seit damals nichts. Die Flüchtlingspolitik, deren Rhetorik von Monat zu Monat immer rabiater und brutaler wird, ist eine giftige Neuauflage der Ballade von der Unbelehrbarkeit. Ausgezahlt hat sich die Forcierung der Abschottungs-, Abschreckungs- und Abschiebepolitik bisher nur für Rechtsaußen, für die AfD. Wird ein Anti-Flüchtlings-Radikalismus besser, wenn er nicht von Alice Weidel, sondern von Sahra Wagenknecht kommt? Menschenrechtsverletzungen bleiben Menschenrechtsverletzungen, von wem auch immer sie propagiert werden.

Wie wird sich die Wagenknecht-Partei auf die politische Landschaft in Deutschland auswirken? Wird das Charisma der Frau die Gründungsphase überleben? Es sind extreme Temperaturschwankungen zu erwarten – so wie sie für die weltgrößte Wüste bezeichnend sind. Deutschland steht vor dem Experiment Sahra Sahara.


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