Warum man über eine Friedensordnung nach dem Krieg nachdenken muss. Es geht um die Zukunft des Zusammenlebens in Europa.

Von Heribert Prantl

Es ist gut, das neue Jahr mit einem Weltfriedenstag zu eröffnen. Es gibt zwar noch etliche andere Tage im Jahr, die auch als Friedenstag firmieren: In Deutschland etwa wird der 1. September als „Antikriegstag“ begangen, die Vereinten Nationen haben den 21. September zum „Internationalen Tag des Friedens“ ausgerufen. Und eigentlich sollte ja angesichts des Zustands der Welt jeder Tag ein Weltfriedenstag sein oder werden. Aber wenn schon ein bestimmter Tag dafür ausgesucht werden soll – dann sollte es der 1. Januar sein. Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden, es ist also hoffnungsvoll, wenn das Jahr mit einem Weltfriedenstag beginnt. Die Welt braucht Hoffnung. Sie braucht Hoffnung im Nahen Osten, sie braucht Hoffnung in der Ukraine. Sie braucht Hoffnung darauf, dass der Hass nicht das letzte Wort hat.

Hass ist eine furchtbare Kraft, die schlimmste, die es gibt. Hass ist mächtig, Hass befeuert Terror und Attentate. Hass macht blind. Der Hasser sieht den Menschen nicht mehr, er sieht die Menschen nicht mehr. Er sieht nicht, dass die Menschen, die er mordet, Menschen mit Sorgen sind wie er. Der Hass entmenschlicht. Er macht aus anderen Menschen Objekte, die der Befriedigung des eigenen Hasses dienen müssen. Er ist ein niedriger Beweggrund, der sich mit Geltungssucht selbst erhöht.

Europa wurde gebaut auf den Trümmern des alten Hasses

Das Gefährliche am Hass ist, dass er das Morden für eine tapfere Tat hält. Und das besonders Gefährliche am Hass ist, dass er ansteckend ist. Hass hat Verführungskraft. Wer vom Hass getroffen wird, kann von ihm infiziert werden. Die vom Hass Getroffenen hassen dann zurück. Sie hassen den Täter, sie hassen auch die Gruppe von Menschen, zu denen man die Täter rechnet. So entsteht die monströse Dynamik des Hasses. Wenn diese Dynamik funktioniert, ist das ein Erfolg der Hasser, der Mörder, der Terroristen.

Diese Dynamik zu stoppen, ist die Voraussetzung für einen Frieden. Europa ist ein Exempel dafür. Europa wurde gebaut auf den Trümmern des alten Hasses. Europa wurde gebaut aus überwundenen Erbfeindschaften; Deutschland und Frankreich galten vor hundert Jahren noch als Erbfeinde. Die europäischen Verträge sind die Ehe- und Erbverträge ehemaliger Feinde. Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Europäischen Gemeinschaft (EG), der Europäischen Union (EU) war ein welthistorisches Friedensprojekt. So ein Projekt ist nicht fertig, wenn ein paar Verträge abgeschlossen worden sind. So ein Projekt muss immer weitergehen, es muss immer neu durchdacht, begründet, fortentwickelt werden. Das ist die Erkenntnis seit dem 24. Februar 2022, seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs.

Mit zunehmendem Abstand zum Zweiten Weltkrieg galt das Friedensprojekt Europa schon fast als Normalität, als Selbstverständlichkeit. Aber das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich. Ein unkriegerischer Kontinent war und ist nicht selbstverständlich. Er muss gebaut, es muss geschützt, er muss verteidigt werden, es muss immer wieder neu begründet und gegründet werden. Die historische Leistung der EWG, der EG, der EU war es, die Feindschaften von gestern zu entfeinden. Heute gilt es, die Feindschaften von heute zu entfeinden. Das ist angesichts von Krieg und Gewalt schwer vorstellbar. Aber das Nachdenken über eine Friedensordnung in Europa jenseits des Krieges ist unverzichtbar.

Die Geografie lässt sich nicht ausblenden

Das Nachdenken beginnt mit dem Gedanken, dass Moskau zu Europa gehört, so wie München, Mariupol, Madrid und Marseille. Madrid gehörte auch zur Zeit der Franco-Diktatur zu Europa; und die Strahlkraft des demokratischen Europa hat dazu beigetragen, diese Diktatur zu überwinden. Die Probleme auf dem Kontinent verschwinden nicht damit, dass man sich Russland einfach aus Europa wegdenkt. Wenn man das versuchte, dann würde man in geraumer Zeit schon wieder sagen müssen: „Wir haben uns geirrt.“

Die Geografie lässt sich nicht ausblenden, die gemeinsame europäische Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen auch nicht. Die Suche nach Frieden, nach einer gesamteuropäischen Friedensordnung, kann und darf daher nicht als Irrweg, nicht als sinnloses Unterfangen betrachtet werden – schon deswegen nicht, weil jeder andere Weg so gefährlich ist, dass er an ein Zeitenende führen kann.

Das Jahr 2024 wird dann ein gutes Jahr sein, wenn es friedensfördernde Mechanismen in Gang setzen kann. Das Jahr 2024 wird dann ein gutes Jahr werden, wenn das Einvernehmen darüber wieder wächst, dass Sicherheit nur gemeinsam und nicht gegeneinander zu haben ist. Das meint der Begriff „kollektive Sicherheit“; er steht auch im Grundgesetz. Es geht um das Zusammenleben in Europa.


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