In der Debatte um den „Taurus“ steht Olaf Scholz zum Grundgesetz und zu seinem Amtseid, in dem er sich verpflichtet hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.

Von Heribert Prantl

Der Bundeskanzler ist kein Friedensfürst. Er legt nicht den Grundstein für Kindergärten und Kliniken. Er lässt sich beim symbolischen ersten Spatenstich für eine neue Rüstungsfabrik fotografieren. Im niedersächsischen Unterlüß in der Lüneburger Heide baut der Konzern Rheinmetall eine Großfabrik zur Produktion von Artilleriegranaten. Schon im kommenden Jahr sollen dort fünfzigtausend dieser Granaten hergestellt werden, im Jahr darauf hunderttausend, später zweihunderttausend. Ein Pazifist würde wohl vorrechnen, wie viele Menschen man damit töten kann. Der Kanzler berechnet das nicht.

Er lobt stattdessen den Rüstungskonzern für seine Aktivitäten. „Wir müssen“, sagt der Kanzler, „weg von der Manufaktur, hin zur Großserienfertigung von Rüstungsgütern.“ Neben den Artilleriegranaten vom Kaliber 155 Millimeter werden im neuen Werk Sprengstoffe produziert und weitere Komponenten für die Raketenartillerie. Für Scholz ist die neue Rüstungsfabrik in der Lüneburger Heide nur ein Anfang: Angesichts der Bedrohung durch Russland brauche es viel mehr Waffen und Munition – über Jahre hinweg. Das gehört zu der von ihm propagierten „Zeitenwende“.

Von Schmidt zu Scholz

Für den Konzern Rheinmetall, er ist Deutschlands wichtigster und ein in Europa führender Waffenproduzent, ist das alles sehr profitabel; eine Granate aus dem neuen Werk wird etwa 5000 Euro kosten. Der Rüstungskonzern hat schon vor ein paar Monaten bei einer Investorenkonferenz angekündigt, er wolle den Umsatz verdoppeln. Die Waffenfabrik erwartet für das Jahr 2026 einen Umsatz zwischen 13 und 14 Milliarden Euro. Das Unternehmen würde damit seinen Umsatz gegenüber 2023 fast verdoppeln. Gleichwohl will die Europäische Union der Rüstungsindustrie mit Subventionen unter die Arme greifen. Eine boomende Branche soll zusätzlich mit Steuergeldern unterstützt werden; das Ziel: Es soll mehr Waffen „Made in Europe“ geben. Es ist auch vom Wegfall der Mehrwertsteuer die Rede, wenn sich mehrere EU-Mitgliedsländer dafür entscheiden, gemeinsam Waffen zu erwerben. Scholz tritt alledem nicht entgegen, im Gegenteil. Er ist kein „Schwerter zu Pflugscharen“-Mann. Er steckt ungeheuer viel Geld in die Aufrüstung der Bundeswehr; er hat Deutschland, nach einigem Zögern, zum größten Waffenlieferanten in die Ukraine nach den USA gemacht.

Dem Reichskanzler Otto von Bismarck wird die Feststellung zugeschrieben, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne; ob er das wirklich gesagt hat, lässt sich nicht nachweisen. Helmut Schmidt hat das jedenfalls mit Verve betont, als er auf einem Kirchentag in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts den Nato-Doppelbeschluss verteidigte. Er hielt die Nachrüstung für notwendig, um auf diese Weise Abrüstungsverhandlungen der Supermächte zu erzwingen. Schmidts Nachrüstungs-Atompoker sah seinerzeit so aus: Er wollte Nachrüstung mit Abrüstung verbinden. Die Nachrüstung sollte ein strategisches Gleichgewicht schaffen – um dann abzurüsten: Eine sowjetische SS-20-Rakete, die, auf die BRD gerichtet, gleichzeitig drei deutsche Städte ausradieren konnte, gegen eine Pershing, die binnen zehn Minuten von Westdeutschland nach Moskau fliegen und dort alles in Schutt und Asche zu legen in der Lage war. Egon Bahr sagte dazu später, es sei dies der Versuch gewesen, eine Art Erpressungssituation zu schaffen. Diese Erpressung hatte seinerzeit Erfolg: Der INF-Abrüstungsvertrag wurde, Jahre später, aber immerhin, 1987 von den Staatschefs Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnet; 2019 wurde der Vertrag aber dann von den USA unter US-Präsident Donald Trump wieder gekündigt. Damals, in den späten Achtzigerjahren, war die Gefahr eines europäischen Hiroshima, eines Euroshima also, mit Glück und Entschlossenheit gebannt worden. Sie besteht heute wieder, noch mehr als damals.

Was Olaf Scholz umtreibt

Das ist die Sorge, die den Kanzler Scholz zu Recht umtreibt. Deswegen ist er bei den Waffenlieferungen an die Ukraine abwägend und besonnen, deswegen unterstützt er die Ukraine bei der Verteidigung gegen Putin mit vielem, mit sehr vielem, aber nicht mit allem; deswegen lehnt er die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus ab. Warum? Auf dass der Taurus wirkungsvoll zuschlagen kann, braucht er Daten aus Deutschland. Die Taurus-Kommandostruktur müsste in die Ukraine verlegt oder von Deutschland aus bedient werden. Das lehnt Scholz ab. Er sperrt sich massiv dagegen. Er will verhindern, dass Deutschland in einen Krieg mit Russland verwickelt wird: „Deutsche Soldaten“, so erklärt er, „dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System (Anm.: der Taurus) erreicht, verknüpft sein.“

Hochrangige deutsche Luftwaffen-Offiziere haben daher in ihrem geleakten Telefongespräch versucht, aus einem Quadrat einen Kreis zu machen, und überlegt, wie man einen Taurus-Einsatz trotzdem hinkriegen könnte. Sie haben gemerkt, dass es kaum geht, die Waffe einzusetzen, ohne faktische direkte Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten und ohne informationstechnische Beteiligung der Bundeswehr. Die Waffe müsste von Deutschland aus mit den nötigen Daten gefüttert werden, damit ihr Flug ins Ziel führt. Ansonsten müsste Deutschland hochgeheime militärische Daten an die Ukrainer liefern. Das verweigert Scholz. Deswegen wird er als Kontrollfreak und Korinthenkacker diskreditiert, als ewig zögernder Kanzler. Das stimmt nicht. Scholzens Kritiker, welche eine Taurus-Lieferung unbedingt wollen, sprechen von einem „kriegsscheuen Deutschland“, als wäre das etwas Schlechtes. Es wird in Kürze, zum 75. Jubiläum, viel vom Grundgesetz die Rede sein. Es lohnt sich, die Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee nachzulesen. Dort fand eine einfach und einprägsame Formel viel Zuspruch. Sie lautete: „Der Krieg ist verboten.“ Carlo Schmid sagte es dann als Vorsitzender des Hauptausschusses bei den Grundgesetzberatungen immer und immer wieder: „Krieg ist kein Mittel der Politik.“

Es gibt viel zu kritisieren am Kanzler. Aber: Olaf Scholz respektiert die Uridee des Grundgesetzes, er respektiert die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die mit Nachdruck vor allem gewarnt haben, was die Bundesrepublik in einen Krieg hineinziehen könnte. Und er steht zu seinem Amtseid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Respekt, Kanzler!


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