Der Chefankläger beim Weltstrafgerichtshof muss umgehend eine Anklageschrift vorlegen, es müssen internationale Haftbefehle ausgestellt werden. Die Einrichtung eines Ukraine-Sondertribunals bringt hier gar nichts.

Kolumne von Heribert Prantl

Der Internationale Strafgerichtshof feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: Sein Statut, das Gründungsdokument, wird 25 Jahre alt. Das Gericht in Den Haag ist zuständig für die Kernverbrechen des Völkerstrafrechts und auf Dauer angelegt, anders als die Sondertribunale für Jugoslawien und Ruanda.

Die Gründungsurkunde für dieses Weltstrafgericht, das Römische Statut, datiert vom 17. Juli 1998. Sie war das Ergebnis einer Weltkonferenz, das Produkt von fünfwöchigen Verhandlungen. 120 Staaten haben das Statut unterschrieben, 124 Staaten erkennen heute den Internationalen Strafgerichtshof als Weltstrafgericht an – einige wichtige Staaten allerdings nicht: Russland nicht, die USA nicht, Israel nicht, China auch nicht. „Ohne den Beitritt der Schwergewichte kann der Strafgerichtshof die Erwartung kaum erfüllen, schwerste internationale Verbrechen zu ahnden,“ so erklärt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Vielleicht doch! Das Gericht und sein Chefankläger haben Wladimir Putin und Co. im Visier. Der Chefankläger des Gerichts, der britische Anwalt Karim Ahmad Khan, hat schon wenige Tage nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs Ermittlungen eingeleitet und mit dem Sammeln von Beweismaterial für Strafverfahren gegen Putin und seine Konsorten begonnen. Vor dem Weltstrafgerichtshof gibt es nämlich keine Immunität für Staatenlenker. Und am 16. März 2022 hat der Weltstrafgerichtshof einstweilige Maßnahmen gegen Russland erlassen und angeordnet, alle militärischen Operationen unverzüglich einzustellen. Selbst durchsetzen konnte und kann der Weltstrafgerichtshof diese Entscheidung nicht; dafür ist der UN-Sicherheitsrat zuständig; und in diesem Gremium sitzt bekanntlich Russland.

Es wäre eine Sabotage des Weltstrafrechts

Unmittelbar praktische Bedeutung hatte die Eilanordnung also nicht – aber eine enorme symbolische Bedeutung, nämlich: Der Weltstrafgerichtshof sieht sich zuständig für die Gräuel in der Ukraine. Er kann und will zu Gericht sitzen über den Ukraine-Krieg und die Verantwortlichen dafür. Er kann und will die Kriegsverbrechen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen des Völkermords untersuchen und bestrafen. 43 Staaten aus allen Kontinenten haben dies auch beantragt. Nur bei einem der einschlägigen Verbrechen sind dem Weltstrafgericht durch die Statuten die Hände gebunden: beim Verbrechen der Aggression. Darunter fallen die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung.

Einige Staaten und Akademikerzirkel drängen deshalb darauf, ein Ad-hoc-Tribunal, ein besonderes UN-Ukraine-Tribunal einzurichten, um dort auch das Verbrechen der Aggression verfolgen zu können. Hauptbetreiber eines solchen Ukraine-Sondertribunals sind die USA.

Die USA wollen unter Aufbietung all ihrer juristischen und diplomatischen Hilfstruppen auf diese Weise den von ihnen von Anfang an bekämpften Weltstrafgerichtshof lahmlegen; zu diesen Hilfstruppen zählt leider auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, die vehement für ein Sondertribunal wirbt – obwohl Deutschland von Anfang an zu den Hauptunterstützern und Hauptfinanziers des Weltstrafgerichtshofs zählt.

Die USA fürchten den Autoritätsgewinn, den die Ankläger in Den Haag und der Weltstrafgerichtshof hätten, wenn dort Haftbefehle gegen Putin, Lawrow und deren Kriegstreiber-Clique ausgestellt würden. Die USA fürchten den Weltstrafgerichtshof, weil sie ihre Kriege und ihre Kriegführung nicht von einem Weltstrafgericht prüfen und aburteilen lassen wollen. Deshalb soll dieser Weltstrafgerichtshof durch ein Sondertribunal ausgebootet werden, das sich offenbar in Den Haag schon im Aufbau befindet.

Die Nachteile eines Sondertribunals

Was brächte ein Sondertribunal? Es könnte, das ist sein einziger Vorteil, die Aggressionsverbrechen verfolgen – wobei das Sondertribunal auch da einige Legitimationsprobleme hätte. Großen Mehrwert im Hinblick auf die zu erwartenden Strafen haben die Aggressionsverbrechen allerdings nicht; die Strafen für Aggression fallen neben denen für Kriegsverbrechen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord nicht ins Gewicht. Sehr ins Gewicht fallen aber die gravierenden Nachteile, die ein Sondertribunal (nach ukrainischem Recht, wie es Baerbock vorschlägt) mit sich bringt: Aktive Staatenlenker, also Putin und sein engstes Umfeld, können dort wegen ihrer Immunität nicht belangt werden; die EU-Justizminister haben deswegen soeben ein Sondertribunal abgelehnt. Vor dem Weltstrafgerichtshof gibt es diese Immunität nicht.

Der Weltstrafgerichtshof könnte der Sondertribunalisiererei schnell ein Ende setzen, wenn er unverzüglich Haftbefehle gegen Putin und dessen Leute erlässt. Niemand würde mehr verstehen, was dann noch die Forderung nach einem Sondertribunal soll. Und die Menschen in der Ukraine würden sehen, dass es neben der humanitären Hilfe und der Waffenhilfe auch eine effektive justizielle Hilfe gibt: nämlich eine Hilfe durch das Weltstrafgericht.

Die Hilfe bestünde darin, dass sie die russischen Führungskräfte als das benennt, was sie sind – Verbrecher; und die Hilfe bestünde vor allem darin, dass sie diese Verbrecher in ihrer Bewegungsfreiheit durch internationale Haftbefehle beschränkt. Carla Del Ponte, die frühere Chefanklägerin der Jugoslawien-Tribunale, hat diese Haftbefehle schon im April vergangenen Jahres gefordert: „Man hat vom ersten Tag an gesehen, dass Kriegsverbrechen begangen werden.“ Und: „Ich hoffe, dass es schnell zu einer Anklageschrift kommt und internationale Haftbefehle ausgestellt werden.“

Globale Gerechtigkeit? Die USA sind dagegen

Es würde auf diese Weise demonstriert: Justice is going global – ohne Ansehen der Person. Genau das wollen die USA nicht. Für den UN-Generalsekretär war die Gründung des Weltstrafgerichtshofs vor 25 Jahren ein „Geschenk der Hoffnung“, für die US-Politik war und ist er ein „Monster“, wie das damals der mittlerweile verstorbene US-Senator Jesse Helms formuliert hat. Es gehört zum Selbstbewusstsein der Supermacht, keine Autorität über sich zu dulden, sich keiner Macht zu beugen, auch nicht einem unabhängigen Weltgericht.

Der damalige US-Senator Helms nannte die Befürchtungen beim Namen: „Hätte es das Gericht bereits gegeben, als die US-Truppen in Panama einmarschierten, wie hätte das Urteil wohl gelautet? Wie wäre es ausgefallen, als unsere Soldaten auf Grenada einmarschierten? Oder als wir Tripolis bombardierten?“ Und dann holte der Senator gewaltig aus: „Es ist unsere Pflicht, das Monster zu erschlagen, bevor es gedeiht und uns heimsucht.“ Heute stünden die Amerikaner wohl wegen der Folterungen in den Gefängnissen von Abu Ghraib, wegen des Kriegs im Irak und in Afghanistan vor den Weltstrafrichtern. US-Präsident Bush unterzeichnete sogar ein Gesetz, das die militärische Befreiung von US-Bürgern in den Niederlanden erlaubt, die in Den Haag angeklagt und in Haft sind. Dieser American Service-Members‘ Protection Act (Schutzgesetz für amerikanische Dienstangehörige) heißt bei seinen Kritikern bezeichnenderweise „The Hague Invasion Act“.

Der Weltstrafgerichtshof ist der Erbe der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Damals sagte Robert Jackson, der US-Ankläger, er habe die Hoffnung, mit den Mitteln des Völkerrechts „jenen den Krieg zu vergällen, in deren Händen sich die Macht und das Schicksal ganzer Völker befinden“. Diese Hoffnung, diese Chance verkörpert der Weltstrafgerichtshof in Den Haag. „Eine globale Strafjustiz, die auch vor Staatsangehörigen und Staatslenkern einer UN-Vetomacht nicht haltmacht, ist greifbar nahe“ – so sagt das Wolfgang Schomburg, ein Berliner Experte und Praktiker des Internationalen Strafrechts.

Diese Chance muss genutzt und darf nicht durch ein von den USA betriebenes Sondertribunal konterkariert werden. Der Internationale Strafgerichtshof, das Weltstrafgericht, braucht Stärkung, nicht Schwächung. Er muss ausgebaut, seine Statuten müssen verbessert und geschärft werden. Dabei muss Deutschland kräftig mitarbeiten.


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