Das Gericht will den ehemaligen Audi-Chef zu einem umfassenden Geständnis drängen. Ist das zupackende Prozessführung – oder die Verrohung gerichtlicher Sitten?
Von Heribert Prantl
Das Corpus delicti in diesem Fall heißt „Defeat device“. Es handelt sich um die englische Bezeichnung für Vorrichtungen im Auto, die die Abgasreinigung abschalten; nur auf dem Prüfstand werden die Abgase vollständig gereinigt, im alltäglichen Straßenverkehr nicht.
Defeat device ist eingebauter Betrug. Die Betrugssoftware wird in englischer Sprache benannt, weil sie 2015 in den USA entdeckt wurde, eingebaut in Zigtausende von VW-Fahrzeugen. Dort, in den USA, begann dann der Dieselskandal, einer der ganz großen Skandale der Industriegeschichte – der nicht nur VW, sondern auch Audi, Daimler und BMW erfasste.
Was ist der Kern dieses Skandals? Fehlendes Unrechtsbewusstsein, kaltschnäuziges Kostenkalkül, Skrupellosigkeit? Wie viel kriminelle Energie steckt im Skandal? Mit der strafrechtlichen Aufklärung dieser Fragen ist es nicht weit her.
Man muss schon ganz schön naiv sein, um zu glauben, dass die Dieselbetrügereien ganz allein von Ingenieuren und Programmierern eingefädelt wurden. Entscheidet ein Ingenieur auf eigene Faust, zu kleine Adblue-Tanks in die Autos einzubauen? Entscheidet ein Programmierer auf eigene Faust, eine Software mit illegalen Abgase-Abschalteinrichtungen zu installieren? Das sind kriminelle Fundamentalentscheidungen; da geht es um Milliardenrisiken; solche Risiken werden ganz oben entschieden, von Führungskräften, im Vorstand, wo sonst? So dachte man sich das – und das war und ist gewiss nicht falsch.
Der Fisch stinkt am Kopf, das Auto am Auspuff
Der einzige VW-Vorstand, der bisher wegen der Dieselbetrügereien vor einem deutschen Gericht steht, ist aber Rupert Stadler, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Audi – Mister Audi, wie er einst genannt wurde. Gegen ihn läuft seit zweieinhalb Jahren der Strafprozess vor dem Landgericht München II.
Ein Strafverfahren gegen die damaligen Vorstandsmitglieder Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch vor dem Landgericht Braunschweig ist gegen eine Geldauflage in Millionenhöhe eingestellt worden. Ein weiteres Verfahren gegen die VW-Verantwortlichen in der Konzernzentrale in Wolfsburg zieht sich beim Landgericht Braunschweig endlos dahin, allerdings inzwischen ohne den ehemaligen VW-Konzernchef Martin Winterkorn; der hat Atteste vorgelegt, die ihm bestätigen, schon seit längerer Zeit nicht verhandlungsfähig zu sein. Ob die Verhandlung gegen ihn jemals stattfinden wird, steht in den Sternen.
In Niedersachsen, am Sitz des Mutterkonzerns VW, müsste aber eigentlich der Schwerpunkt der strafrechtlichen Aufarbeitung liegen. Dort, am Sitz des VW-Konzerns, wurden die strategischen Linien gezogen, dort wurde der „clean Diesel“ propagiert, um den amerikanischen Markt zu erobern; dort saßen die obersten Entscheider. In der Anklage steht gewerbs- und bandenmäßiger Betrug. Wenn man bei dieser Wortwahl bleiben will: Wer ist der Kopf der Bande? Ab wann haben Winterkorn und andere VW-Vorstände von der Betrugssoftware gewusst und deren Einbau nicht unterbunden, sondern verschleiert?
Zu den zentralen Erkenntnissen des Münchner Strafverfahrens gegen Audi-Stadler gehört es, dass er erstaunlicherweise von den Abgasmanipulationen bis zu deren Aufdeckung wirklich nichts wusste; davon gehen sowohl die Münchner Staatsanwaltschaft als auch das Landgericht München II aus. Wie es aussieht, ist daher Winterkorn, nicht Stadler eine oder die zentrale Schlüsselfigur für das kriminelle Desaster.
In München wird nun seit über 160 Tagen, zweimal die Woche, gegen vier Angeklagte verhandelt: gegen den Ex-Vorstandschef Stadler und drei weitere Angeklagte, darunter der Kronzeuge der Anklage. Bei den drei Mitangeklagten Stadlers lautet der Vorwurf, dass sie unmittelbar an den Manipulationen beteiligt waren. Bei Stadler geht der Vorwurf dahin, dass er nach dem Auffliegen dieser Manipulationen verabsäumt hat, sofort die Audi-Händler zu informieren und den Verkauf der betroffenen Autos zu unterbinden. Er hätte, so lautet der Vorwurf, auch wegen seiner vorangegangenen Beschwichtigungen in der Zeit seiner Gutgläubigkeit die Pflicht zu solchem Einschreiten sofort nach Eintritt seiner Bösgläubigkeit gehabt.
Dies ist eigentlich ein überschaubarer Vorwurf, der in ziemlich kurzer Zeit hätte verhandelt und aufgeklärt werden können. Stadlers Verfahren hätte daher eigentlich von denen der anderen drei Angeklagten abgetrennt werden müssen.
Bedrohlicher Wink mit dem Zaunpfahl
Dies ist nicht geschehen. Stattdessen hat der Vorsitzende Richter nach zweieinhalb Jahren nun in mündlicher Verhandlung als „Zwischenergebnis“ verkündet, es laufe für Stadler auf eine Verurteilung wegen Betruges hinaus – wobei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne, wenn er ein vollständiges Geständnis ablege.
Als gesetzliche Grundlage für so einen bedrohlichen Wink mit dem Zaunpfahl diente der Paragraf 257 b Strafprozessordnung, in dem es heißt: „Das Gericht kann in der Hauptverhandlung den Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies geeignet ist, das Verfahren zu fördern.“
Man kann sich fragen, ob der massive gerichtliche Geständnisdruck dem Verfahren wirklich förderlich ist. Was soll befördert werden? Das Ende des Verfahrens per Deal? Der Eindruck der Unerbittlichkeit? Der Ruf, dass die bayerische Justiz zielstrebiger agiert als die in Niedersachsen?
Das falsche Schwein
Womöglich wird da das falsche Schwein geschlachtet. Der Angeklagte Stadler ist in einer fatalen Lage. Man möchte nicht in seiner Haut stecken. Was bleibt ihm nun übrig? Wenn er nicht geständig ist, kann das Gericht nach der öffentlichen Vorverurteilung gar nicht mehr anders, als ihn in ein paar Wochen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung zu verurteilen.
Legt er aber – entgegen seiner eigenen Auffassung – ein Geständnis ab, dann kommt er zwar höchstwahrscheinlich nicht ins Gefängnis, verhilft aber dadurch dem Gericht womöglich so erst dazu, die Verurteilung hieb- und stichfest zu begründen. Er ist und bleibt dann ein überführter Straftäter und begibt sich der Möglichkeit, gegen das Urteil in Revision zu gehen – mit unabsehbaren zivilrechtlichen Folgen etwa für Schadenersatzpflichten.
Man kann das, was da in München passiert, für zupackende Prozessführung bei Wirtschaftskriminalität halten. Man kann auch von einer Verrohung gerichtlicher Sitten sprechen.