Vom Leben und Tod des SZ-Gerichtsreporters Erwin Tochtermann: Die Tat, der Täter und der Zweifel.
Von Heribert Prantl
Kriminalität ist nicht etwas, das der Gesellschaft von außen angetan wird. Verbrecher sind nicht Aliens, die woanders, auf dem dunklen Kontinent des Bösen, zu Hause sind, und die, trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, in die normale Welt einfallen. Nein. Die Täter sind in der normalen Welt, im Nachbarhaus, in der Wohnung nebenan, in der eigenen Haut. Jeder muss sich daher eigentlich selber in Sicherungsverwahrung nehmen. Wenn die Verwandlung des potentiellen Täters in einen realen Täter nicht stattgefunden hat, dann ist das nicht immer eigener Verdienst; womöglich hat man einfach nur Glück gehabt. Erwin Tochtermann wusste es, er wusste das wie nur wenig andere – er war 38 Jahre lang, bis 1999, der Gerichtsreporter der Süddeutschen Zeitung.
Literatur ist, wenn sich der Mensch in einen Käfer verwandelt. Strafrecht ist, wenn er sich in einen Täter verwandelt. Im Strafprozess werden Straftaten ausgemessen mit den Paragrafen des Strafgesetzbuchs. Die Richter machen das bisweilen sehr penibel, bisweilen recht schlampig. Erwin Tochtermann hat das protokolliert, er hat es aufgezeichnet, er hat das nachgezeichnet, er hat das verdichtet und konzentriert. Er hat es unglaublich gut verstanden, die Essenz eines Prozesses herauszuarbeiten. Oft zeigte es sich, dass die Paragrafen des Strafgesetzbuchs keine sehr guten Maßstäbe sind, dass es aber keine besseren gibt. Oft reichen die Paragrafen nicht weit, sie taugen nicht, um die Abgründe des Alltags auszumessen; aber für ein Urteil reichen sie immer. Erwin Tochtermann kannte diese Dilemmata, er hat sie ausgeleuchtet. Es war dies die Summe seiner Erfahrungen: Dort, wo Mord und Totschlag verhandelt werden, erfährt man die Brüchigkeit menschlicher Existenz. Oft bekommt dort das Wort „Kapitaldelikt“ einen ganz besonderen Sinn, weil es um Situationen geht, in denen das Menschliche kapituliert hat – nicht selten schon lange vor der Tat.
Ein Reporter mit subtiler Präzision
Die gute Gerichtsreportage ist kein angeschärfter Polizeibericht, keine publizistische Kanonade gegen den Angeklagten. Sie ist ein Sozialreport aus dem Gerichtssaal. Recht, so lautet ein gelehrter Satz, ist etwas, woran wir glauben, weil das Recht auf unsere Wünsche antwortet, auch wenn es deren Schöpfung ist. Nach der Lektüre der Texte von Erwin Tochtermann glaubte man das nicht mehr unbedingt, man zweifelte daran, dass das Recht die Antwort auf unsere Wünsche ist. Tochtermann hat es verstanden, durch subtile Präzision seine Leserinnen und Leser nachdenklich zu machen.
Mit der Juristerei hatte der gebürtige Schwabinger und Absolvent des Alten Realgymnasiums ursprünglich nichts am Hut. Um dem Wunsch seiner Mutter nach einem „sicheren Beruf“ zu entsprechen, wobei sie vor allem das Lehramt im Auge hatte, studierte er zunächst Germanistik. Das Geld dazu musste er sich als Schaffner auf der damaligen Privatbuslinie Kurfürstenplatz – Harthof verdienen. Vergeblich bewarb er sich 1953 am damaligen Werner-Friedmann-Institut, der heutigen Deutschen Journalistenschule (wo er später dreißig Jahre lang das Fach Gerichtsberichterstattung unterrichtete). Die Prüfer ließen ihn durchfallen. Dafür hatte er sieben Jahre später bei Werner Friedmann selbst Glück: Seiner Bewerbung legte er einen Kommentar über die Kommunalwahlen von 1960 bei, der zwar nicht als Artikel, aber als Leserbrief gedruckt und (wohl einmalig in der Geschichte der SZ) mit 25 Mark honoriert wurde. Franz Freisleder, der langjährige Lokalchef der SZ, hat diese Geschichte erzählt. Und zu den 25 Mark kam die Einladung zur persönlichen Vorstellung in der Lokalredaktion, die mit der Anstellung endete.
Er saß fast täglich im Gerichtssaal
Seine Karriere als Gerichtsreporter begann mit dem Prozess gegen Vera Brühne, dann kamen die vielen Prozesse, bei denen man die Namen der Angeklagten noch nach Jahrzehnten kennt: Der Prozess gegen Dieter Zlof, der den Industriellen-Sohn Richard Oetker entführt hatte. Der Prozess gegen die Schauspielerin Ingrid van Bergen, die ihren Geliebten erschossen hatte, der Begonienmordprozess gegen den Gräfelfinger Zahnarzt Erich Schromm. Der Prozess über den Mord am Volksschauspieler Walter Sedlmayr. Tochtermann geilte sich dabei nicht auf an der Sensation, er betrachtete sich, wie er selbst einmal sagte, als ein „Organ der Rechtspflege“. Von den frühen sechziger Jahren an saß dieses Organ der Rechtspflege nahezu täglich im Gerichtssaal. Vera Brühne, Tochtermanns erster großer Fall, wurde 1962 zu lebenslanger Haft verurteilt. Tochtermann war nicht überzeugt von ihrer Schuld – und er gab dem Zweifel Raum.
Der Satz „in dubio pro reo“ war der Satz, der sein Wirken prägte. Als Tochtermann von der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins 2006 in Dresden mit dem Preis „pro reo“ für sein journalistisches Lebenswerk geehrte wurde, sagte der Münchner Strafverteidiger Werner Leitner bei der Überreichung der Urkunde: Tochtermann habe „Maßstäbe für eine seriöse, faire, präzise, aber zugleich lebendige und menschlich einfühlsame Berichterstattung aus dem Gerichtssaal gesetzt.“ Das hat er in der Tat. Erwin Tochtermann hat Maßstäbe gesetzt. Er war ein Kollege, der sich gegen die Hysterien des Boulevards gestellt hat; er war ein kundiger Menschenfreund, ein Humanist mit Haut und Haar. Er war ein Erzliberaler.