In Palermo endet die lange Ära des Bürgermeisters und Anti-Mafia-Kämpfers Leoluca Orlando. Was wir von ihm lernen können.

Von Heribert Prantl

Zivilcourage, Zivilgesellschaft und Gemeinsinn – das sind gute Wörter; sie stehen für Werte, ohne die man in einer Demokratie nicht auskommt. Sie haben für mich einen sizilianischen Klang. Das hat zu tun mit einem Mann, der 1985 zum ersten Mal Bürgermeister in Palermo wurde und es seitdem fünfmal war; er gilt als der große und unerbittliche Gegner der Mafia. Jetzt, bald 75 Jahre alt, tritt er ab: In Palermo wird am heutigen Sonntag ein neuer Bürgermeister gewählt – der Nachfolger von Leoluca Orlando. „Missione compiuta. Da completare“ heißt seine Abschiedsbotschaft, die man auf Facebook sehen und hören kann; mit melancholischem Stolz geht er durch seine Stadt.

Mit ihm, mit Leoluca Orlando endet eine Ära, die eine große Ära für Sizilien war. Mit ihm begann der „Frühling von Palermo“, mit ihm verbindet sich ein fantasievoller, hartnäckiger und erfolgreicher Kampf gegen die Mafia. Wenn es um die Antwort auf die Frage geht, was ein Einzelner vermag: Er ist ein leuchtendes Beispiel.

Ich kenne Leoluca Orlando nun seit mehr als 25 Jahren. Bei unserer ersten Begegnung, als wir durch seine Stadt liefen und ich ihn fragte, was ich mir unter der „Wiedergeburt Palermos“ vorstellen solle, zeigte er mit fast theatralischer Begeisterung hierhin und dorthin und begann dann zu erzählen – in einer wunderbaren Mischung aus Italienisch und Deutsch, das er als Jurastudent in Heidelberg gelernt hatte: „Als ich mit meiner politischen Tätigkeit begann, war Palermo nur physisch eine Stadt; niemand fühlte sich für sie verantwortlich. Die Geschichte einer Stadt, nehmen Sie Freiburg oder Florenz, ist immer die Geschichte ihrer gemeinsamen Werte und Sachen; eine solche Geschichte gab es in Palermo nicht mehr. Die Verantwortung des Einzelnen endete an der Grenze des eigenen Besitzes, es gab keinen Gemeinsinn. Als aber die Mafia anfing, exzessiv zu morden, als sie beliebte Richter und Polizisten tötete, da bekamen die Menschen Angst – sie gingen auf die Straßen und Plätze und entdeckten, dass es eine Stadt gab, die außerhalb ihrer eigenen Häuser existierte.“

Ich verstand. Er meinte die Wiederentdeckung des Bürgersinns. Zusammen mit der Bürgerschaft hielt er den Verfall der Altstadt auf. Es war dies ein Verfall gewesen, welcher der mafiösen Sippschaft gar nicht schnell genug gehen konnte, weil sie am liebsten alles niedergewalzt hätte, um auch dort noch Wohntürme zu errichten.

Das Ende der alten Verhältnisse

Mit Leoluca Orlandos Antritt als Bürgermeister begann das Ende der alten Verhältnisse. In diesen alten Verhältnissen gab es in Palermo an die 250 Morde im Jahr, die auf das Konto der Mafia gingen. Am Ende der zwei ersten Amtszeiten Leoluca Orlandos gab es in Palermo noch acht Morde im Jahr – und diese ohne Beteiligung der Mafia. Palermo wurde zu einer Stadt, die über Jahre hin die sicherste in Italien war. Es war eine internationale Anerkennung dieser Leistung, dass in Leoluca Orlandos Palermo im Dezember 2020 die UN-Konferenz zur Unterzeichnung der Konvention gegen das länderübergreifende Verbrechen stattfand.

Das Ende der alten Verhältnisse in Palermo hatte unter anderem damit begonnen, dass Orlando die weltberühmte Fotografin Letizia Battaglia zur „Stadträtin für Lebensqualität“ ernannte. Sie begann ihr Wirken damit, auf Plätzen und an Uferstreifen Palmen zu pflanzen und Marmorbänke aufzustellen. Das war der erste zaghafte „Frühling von Palermo“ – der dann in dem baugrubengroßen Krater verschwand, den ein Mafia-Kommando 1992 beim Mordanschlag auf den Richter Giovanni Falcone in die Autobahn zum Flughafen sprengte. Die Mafia-Morde an den Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino waren anders als hundert stille Morde vorher: Sie waren laut und sichtbar.

Leoluca Orlando stand als Nächster auf der Todesliste. Als das in einem Zeitungsinterview angedeutet wurde, boten sich Tausende von Frauen aus Palermo in einer Unterschriftenliste an, Orlando künftig mit ihren Kindern in dessen Dienstwagen und auf seinen Dienstgängen zu begleiten. Die Mafia, die, so Orlando, „unsere Werte, unsere Kultur benutzt und pervertiert, um zu töten“, habe größere Angst und größeren Respekt vor den Frauen und Kindern gehabt als vor den Waffen der Polizei.

Ein Leben als ständiger öffentlicher Auftritt

Gemeinsinn: Schulklassen übernahmen die Patenschaft für Kulturdenkmäler; Betriebe adoptierten bestimmte Plätze, kümmerten sich darum, entrissen Plätze und Monumente dem Niemandsland und der Verwahrlosung. In diesen beginnenden neuen Verhältnissen war jede Kunstausstellung, jede restaurierte Säule, jedes neue Straßencafé ein Sieg. Hunderte Cafés und Restaurants stellten ihre Tische auf die Straße, fünf Jahre zuvor hatte das kaum ein Wirt gewagt.

Die Stadtverwaltung schickte mehr Polizisten auf die Straße, der Müll wurde getrennt und regelmäßig abtransportiert, die Busse fuhren pünktlich. „Bis vor einigen Jahren“, so kommentierte das Palermos Bürgermeister damals, „gehörte das, was weder mein ist noch dein, niemandem. Heute gehört das, was nicht mein und nicht dein ist, allen.“ Wo kein öffentliches Leben mehr war, schuf Leoluca Orlando wieder eines. Er eröffnete das vergammelte Teatro Massimo am Rand der Altstadt wieder – mit einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Claudio Abbado. Aus der Schande der Stadt wurde wieder Glanz: „Wiedergeburt, Freude, Stolz“ – das waren die Worte, die in fast jeder Presseerklärung aus dem Rathaus vorkamen.

Palermo apre le porte – Palermo öffnet die Türen. An den Tagen, die an die Ermordung von Borsellino und Falcone erinnern, ließ der Bürgermeister in der ganzen Stadt die Türen von Baudenkmälern öffnen, die seit Jahrzehnten geschlossen und selbst bei den Anwohnern in Vergessenheit geraten waren: Brunnen ohne Wasser, zu Autowerkstätten entfremdete Jugendstilpavillons, sogar die arabische Kanalisation aus dem 12. Jahrhundert. Die Fremdenführer waren keine routinierten Profis, sondern die Kinder aus den umliegenden Schulen.

Die Rückeroberung des öffentlichen Raums

Sein langes Bürgermeisterleben inszenierte Leoluca Orlando als ständigen Auftritt. Der öffentliche Auftritt war die Demonstration seines Widerstands gegen die organisierte Unmenschlichkeit, gegen die Mafia. Und sein Einsatz für die Flüchtlinge und ihre Kinder war die Gegenoffensive gegen Leute wie den ehemaligen italienischen Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini von der rechtsextremen Partei Lega. Der sprach, wenn es um Flüchtlinge ging, verächtlich von „Menschenfleisch“ und propagierte Abschreckung mit allen Mitteln. Leoluca Orlando öffnete den Flüchtlingsschiffen den Hafen und den Flüchtlingskindern die Schulen – vom ersten Tag in Palermo an.

Man darf den öffentlichen Raum nicht der Mafia, nicht den Menschenfeinden überlassen. Das war, das ist Leoluca Orlandos Botschaft. Und man darf nicht zeigen, dass man Angst hat – das ist seine Haltung. Das ist mir immer wieder eingefallen, wenn ich über die Neonazis in Deutschland nachgedacht und recherchiert habe. Die AfD sitzt in allen Parlamenten. In den neuen Bundesländern gibt es Landstriche, in denen rechte Kameradschaften den öffentlichen Raum besetzen. Es gibt Kleinstädte, in denen der Rechtsextremismus zur dominanten Jugendkultur geworden ist. Die rechtsextremen Cliquen sitzen bei Sportveranstaltungen und Stadtfesten. Wenn Neonazis „national befreite“ Zonen proklamieren, dann sagt das sehr genau, worum es gehen muss: um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz. In Sizilien heißt das, was das Gemeinwesen zerstört, Mafia. In Deutschland hat es andere Namen.

 


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