Die FDP braucht eine Neubesetzung an ihrer Spitze. Warum Christian Lindner nicht Parteichef bleiben kann.
Von Heribert Prant
Der FDP-Chef war sehr stolz und sehr zufrieden; das ist jetzt ziemlich genau drei Jahre her. Er war so stolz und zufrieden, dass sich das große Interview mit ihm las wie ein großer Glückwunsch an sich selbst. Christian Lindner gratulierte sich, der Ampelkoalition und der ganzen Republik zu einem, wie er meinte, verheißungsvollen Auftakt: „Daraus“, so sagte er, „kann mehr entstehen“. Und so stand es damals auch in der Überschrift des ganzseitigen Interviews vom 20. November 2021 in der Süddeutschen Zeitung.
Eine Koalition, so legte Lindner dort dar, „sollte mit der Absicht antreten, gemeinsam wiedergewählt zu werden“. Aus dieser Absicht, so sie denn überhaupt je wirklich bestand und mehr war als eine Selbstdarstellungsphantasie Lindners, ist das größte Koalitionsdesaster geworden, das die Bundesrepublik in ihren 75 Jahren erlebt hat.
Seit Lindner Minister unter Scholz war, hat die FDP jede Wahl verloren
Und die Hauptrolle in diesem Desaster spielt der Gratulator und Jubilator von damals; sie ist beschrieben in einem theatralischen Papier, wie es noch nie eines gegeben hat in der bundesdeutschen Koalitionsgeschichte: Es ist das vorweggenommene Protokoll eines Koalitionsausstiegs, es ist dies das Skript für die mit militärischer Präzision beschriebene Operation D-Day; weniger martialischer formuliert: für die Ent-Ampelung der Republik, also für das Ende der Regierung des Kanzlers Scholz.
Nach drei Jahren sollte Schluss sein mit dieser Dreiparteienregierung, die ein notwendiges Experiment war in höchst schwieriger Zeit und die um einiges besser war als ihr Ruf – die aber dem Ruf der FDP nicht förderlich war: Seitdem der FDP-Chef Lindner Finanzminister der Regierung Scholz geworden war, hat seine FDP jede Wahl verloren. Deshalb sollte nach Lindners Willen nicht etwa „mehr entstehen“, sondern weniger, und es sollte zu einem vorzeitigen Ende der Koalition kommen.
Die Lindner-FDP wollte bei diesem frühen Ende gut wegkommen und deshalb die Schuld daran dem Kanzler und den beiden anderen Koalitionsparteien zuschreiben – auch im Wortsinn. Sie wollte das Ende so inszenieren, dass daraus ein politischer Schub für die FDP entstand. Die Sandkastenspiele dafür waren in einem Papier verzeichnet, auf dem als Titel „D-Day Ablaufszenario und Maßnahmen“ steht und in dem von einer „Phase IV“, dem „Beginn der offenen Feldschlacht“ die Rede ist.
Lügerei als liberale Normalität?
Kanzler Scholz hat das mit der Entlassung Lindners als Finanzminister vereitelt. Die Folge war offensichtlich, dass das einschlägige Strategiepapier der FDP, von wem auch immer, durchgestochen und publik wurde – und die Partei sich in ihrer Not, um einen Rest von Initiative zu behalten, entschloss, es selbst zu publizieren; der FDP-Generalsekretär und der FDP-Bundesgeschäftsführer traten zurück, um so politische Verantwortung zu übernehmen; der Parteivorsitzende Lindner lehnte das ab, und er lehnt das immer noch kategorisch ab. Er tut so, als sei das alles Normalität. Das ist nicht Normalität. Das ist furchtbar.
Erinnern Sie sich daran, welch polit-perverse Show der AfD-Abgeordnete Jürgen Treutler im September im Landtag von Erfurt abgezogen hat? Treutler war als ältester Abgeordneter nach der Neuwahl der Alterspräsident und Sitzungsleiter bei der Eröffnung der neuen Legislaturperiode. Er hat die Anfragen von Abgeordneten anderer Parteien missachtet. Er hat deren Wortmeldungen absichtlich übersehen. Er hat den Parlamentariern anderer Parteien das Wort entzogen. Er hat verhindert, dass überhaupt die Beschlussfähigkeit des Parlaments festgestellt wurde. Was Treutler damals veranstaltet hat, war eine offene parteipolitische Feldschlacht im Landtag.
Was immer die FDP an Tricksereien plant und geplant hat – sie darf sich nicht verleiten lassen, diese auch noch in eine für die Demokratie schädliche, in eine destruktive Metaphorik zu kleiden. Aber genau das hat sie getan.
Die FDP ist nicht gefährlich, aber sie präsentiert sich unreif
Das Wort „D-Day“ steht im Englischen für den Beginn militärischer Operationen; und es steht in vielen Sprachen ganz speziell für den 6. Juni 1944 als den Tag der Landung der Alliierten in der Normandie im Zweiten Weltkrieg. Würde die AfD ein solches Vokabular verwenden, um die Einflussnahme auf demokratische Abläufe zu planen und zu beschreiben – es würde dies als bezeichnend für den Ungeist gewertet werden, der in dieser Partei herrscht. Es würde gesagt, dass schon solche Benennungen zeigen, wie weit sich die AfD von der Zivilität politischer Auseinandersetzungen entfernt. „Typisch AfD“ würde es heißen. Und: Es sei dies ein Exempel dafür, wie weit diese Partei von der Demokratie abgerückt und wie gefährlich sie ist.
Die FDP ist nicht gefährlich; sie ist eine demokratische Partei mit langer Tradition; sie hat ihre großen Verdienste in der Geschichte der Bundesrepublik. Aber sie präsentiert sich unter der Führung des Parteichefs Christian Lindner als unglaublich unreif. Ihr D-Day-Papier, das den Bruch der Ampelkoalition planen und inszenieren sollte, ist Ausdruck dieser Unreife – ganz gleich, ob es mit Lindners Kenntnis, mit seiner Billigung, in seinem Auftrag oder gar unter seiner Mitwirkung geschrieben und so tituliert wurde.
Wer in der FDP steht für ernsthaft-seriöse Politik?
Die FDP unter Führung von Lindner ist eine unreife Partei. Der Parteichef selbst ist die Personifizierung dieser Unreife und zwar schon deswegen, weil er selbst die politische Verantwortung für das D-Day-Papier leugnet und auf seine führenden Mitarbeiter abschiebt. Sein Habitus ist selbstgefällig und verantwortungslos.
Natürlich hatte die FDP das Recht, die Ampelkoalition zu verlassen und dies möglichst so zu begründen, dass sie damit politische Punkte sammelt. Aber sie hatte und hat nicht das Recht, dabei zu lügen und dann so zu tun, als gehöre die Lügerei zum politischen Geschäft. Wer das tut, ist halbseiden. Wer so agiert, ist windig. Die Lindner-FDP steht im dringenden Verdacht der Windigkeit.
Sie braucht einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende, der oder die die demokratische Kraft und Tradition dieser Partei vor- und darstellen kann. Sie braucht endlich eine Frau oder einen Mann an der Spitze, die oder der für ernsthaft-seriöse Politik steht – und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Dies wird der FDP im Bundestagswahlkampf nicht schaden, sondern nutzen. Morgen, Leute, wird’s was geben.