Guten Tag,

nirgendwo sonst auf der Welt erlebt man das Unglück, die Verzweiflung und den Zweifel so konzentriert und so kalt gepresst wie im Gerichtssaal. Nirgendwo sonst ist die Bühne des Schicksals so fahl ausgeleuchtet wie in der Großen Strafkammer. Dort, wo Tötungsverbrechen verhandelt werden, erfährt man die Brüchigkeit menschlicher Existenz.

Abgründe des Alltags

Es geht um Situationen, in denen das Menschliche kapituliert hat – nicht selten schon lange vor der Tat, die verhandelt wird. Im Strafprozess werden Straftaten ausgemessen mit den Paragrafen des Strafgesetzbuchs. Die Richter machen das bisweilen sehr penibel, bisweilen nicht. Oft zeigt sich, dass diese Strafparagrafen keine sehr guten Maßstäbe sind, dass es aber keine besseren gibt. Oft reichen sie nicht weit; sie taugen nicht gut, um die Abgründe des Alltags auszumessen; aber für ein Urteil reichen sie immer. So ein Urteil ist nie die ganze Wahrheit. Ein Urteil ist, wenn es gut geht, ein Ausschnitt der Wahrheit.

Die Tötungsdelikte werden in der ersten Instanz ausgiebig verhandelt, vom Bundesgerichtshof werden sie in der Revision überprüft. Dann werden sie rechtskräftig. Die Rechtskraft soll dem Rechtsfrieden dienen. Nur in ganz besonderen Ausnahmefällen kann und soll das Verfahren dann noch einmal aufgerollt werden können, Wiederaufnahme heißt das. Eine Wiederaufnahme zulasten des freigesprochenen Beschuldigten soll die allergrößte Ausnahme sein – so will es das Grundgesetz, so will es die Strafprozessordnung, so will es der Grundsatz „in dubio pro reo“, so will es die Rechtssicherheit: Ein Beschuldigter soll, wenn er einmal wegen einer Tat rechtskräftig freigesprochen wurde, wegen dieser Tat nicht noch einmal angeklagt werden können.

Aus dem Beschuldigen wird ein Dauerbeschuldigter

Das ist, das war bisher ein eherner Grundsatz. Aber so wird es nicht bleiben. Ein neues Gesetz will es anders. Der Bundestag hat soeben, auf Betreiben der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, ein Gesetz beschlossen, das einen Freispruch bei einem Mord künftig zu einem Freispruch unter Vorbehalt macht. Der Beschuldigte bleibt, auch wenn er rechtskräftig freigesprochen worden ist, ein Dauerbeschuldigter. Er soll, immer wenn es neue Beweismittel gibt, von Neuem vor Gericht gezogen werden können. Der Staat kann gegebenenfalls immer und immer wieder auf ihn zugreifen – sobald Zweifel an der Richtigkeit des Freispruchs aufkommen.

Das „Einmal-verdächtig-immer-verdächtig-Gesetz“

Jetzt sagen Sie vielleicht beim Lesen: „Aber wenn der es doch war!“ Aber genau das steht ja nicht fest. Das steht ja auch mit neuen Beweismitteln nicht automatisch fest. Das soeben im Bundestag verabschiedete neue Gesetz aber tut so, als sei die Täterschaft mit den neuen Beweismitteln jetzt quasi schon bewiesen; das ist sie aber nicht.

Ausgangspunkt und Anlass für das neue „Einmal-verdächtig-immer-verdächtig-Gesetz“ war das grausige Verbrechen an der 17-jährigen Schülerin Frederike von Möhlmann, die 1981 als Anhalterin in ein Auto stieg, vergewaltigt und erstochen wurde. Der verdächtige 21-Jährige wurde in erster Instanz wegen Mordes verurteilt, auf seine Revision hin wurde er vom Bundesgerichtshof wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Das höchste Gericht sah Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten.

Die Kriminaltechnik ist nun fortgeschritten in den Jahrzehnten seit der Tat. DNA-Spuren können mittlerweile dem damaligen Angeklagten zugeordnet werden. Ist damit der Fall geklärt? Schreit er nach Wiederaufnahme? Er schreit wegen der Furchtbarkeit der Tat, er schreit, weil das Verbrechen ungesühnt ist, er schreit, weil Frederikes Vater immer noch unendlich leidet. Aber eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den freigesprochenen Beschuldigten wäre trotzdem wenig hilfreich – und falsch.

Die Unsicherheiten werden im Lauf der Zeit größer

Warum? Strafrechtsprofessor Marco Mansdörfer, er lehrt an der Universität das Saarlandes, hat das so erklärt: Auch die neuen Spuren „bestätigen nur, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit in Kontakt mit dem Mädchen war. Sie beweisen, dass ein Beschuldigter in Kontakt zum Opfer stand. Zum Tathergang geben die neuen Spuren wenig bis gar nichts her. Dass die neuen Spuren geeignet sind, gerade die Zweifel zu beseitigen, die seinerzeit zum Freispruch geführt haben, lässt sich auch nicht sagen. Im Übrigen müssten in einer neuen Hauptverhandlung nun nach über dreißig Jahren alle Beweise neu erhoben werden. Welcher der damaligen Zeugen hat heute noch eine klare Erinnerung an die Geschehnisse vor über dreißig Jahren?“

Und dann wendet er sich an die Angehörigen von Frederike: Für sie „wird das hart klingen, aber dass die Justiz diese Vorgänge heute befriedigend aufarbeiten könnte, erscheint illusionär. Mit viel größerer Wahrscheinlichkeit würde ein weiterer Prozess ein neues Desaster werden. Die Unsicherheiten wären größer und der Grundsatz in dubio pro reo umso gewichtiger.“

Was unerträglich ist

Unterstützung und Hilfe für Angehörige von Opfern ungeklärter Gewaltverbrechen sind wichtig. Aber die immerwährende Wiederaufnahme ist nicht das richtige Mittel. Das neue Gesetz heißt „Gesetz zur Herstellung der materiellen Gerechtigkeit“. Der Titel sei eine Unverschämtheit, hat Thomas Fischer, der frühere Bundesrichter und Kommentator des Strafgesetzbuchs, ebenso pointiert wie richtig festgestellt. Aber nicht nur der Titel ist eine Unverschämtheit. Auch die Begründung des Gesetzes ist es: Auf der Basis dieses Gesetzes soll der rechtskräftige Freispruch, wenn er im Licht neuer Erkenntnisse „unerträglich“ ist, korrigiert werden. Unerträglich – das ist keine juristische, das ist eine populistische Kategorie.

Der Mordparagraf selbst ist in diesem Sinne unerträglich. Er gehört reformiert; da sind sich fast alle Strafjuristen einig. Aber die Reform dieses Paragrafen hat bisher die CDU/CSU blockiert. Der Mordparagraf ist reformbedürftig. Das steht seit Jahrzehnten in allen Kommentaren und Lehrbüchern zum Strafgesetzbuch. Passiert ist nichts.

Von Roland Freisler geschnitzt

Vor 41 Jahren, auf dem 53. Deutschen Juristentag in Berlin, hat der Freiburger Strafrechtsprofessor Albin Eser in einem großen Gutachten am Tötungsstrafrecht kein gutes Haar gelassen. Alle applaudierten, das Gutachten verschwand in der Versenkung. Das geltende Tötungsstrafrecht stammt aus dem Jahr 1941, es ist also Nazistrafrecht, es wurde seitdem nur die Strafdrohung verändert – statt Todesstrafe jetzt lebenslange Haft. Der Mordparagraf ist einer, der in seiner Formulierung vollständig aus dem Strafgesetzbuch herausfällt, er ist ein von Roland Freisler, dem Nazi-Richter vom Volksgerichtshof, geschnitzter Paragraf: Es wird nämlich nicht eine Tat, sondern ein Tätertypus beschrieben. Es findet sich im einschlägigen Paragrafen 211 die beklemmende Beschreibung eines Mörders, wie ihn sich die Nazis vorgestellt haben.

Braune Schleimspur

Der schon zitierte Thomas Fischer, ehedem Bundesrichter, hat formuliert, der Paragraf habe eine „braune Schleimspur“. Dort finden sich nämlich Vokabeln wie „heimtückisch“ oder „niedrige Beweggründe“. Und es heißt apodiktisch: Der so beschriebene Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft; im Gesetz gibt es da keine mildernden Umstände, es gibt da nur diese eine Strafe als einzig mögliche Strafe: „Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“

Das hat die Juristen im Rechtsstaat Bundesrepublik vor große Schwierigkeiten gestellt: Was macht man beim sogenannten Haustyrannenmord? Höchststrafe für eine Frau, die ein zehnjähriges Martyrium hinter sich hat? Lebenslange Strafe für eine Frau, die von ihrem Mann, einem Koloss, jahrelang grün und blau und „im Viereck“, wie der sich gebrüstet hat, durch die Wohnung geprügelt wurde? Jeder wusste das, aber auch der Ortspolizist griff nicht ein, er kam nicht auf die Idee, die Frau in einem Frauenhaus unterzubringen. Die Frau hatte heillose Angst davor, dass der Gatte im Suff nicht nur sie, sondern auch das Kind traktiert. Sie hat ihn im Schlaf mit dem Messer umgebracht. Im Schlaf – das ist Heimtücke. Heimtücke ist Mord. Mord heißt lebenslänglich. Die Gerichte haben zirkusreife Verrenkungen gemacht, um diese Folge zu vermeiden.

Wenn etwas unerträglich ist im Tötungsstrafrecht, dann ist es der mühsam rechtsstaatlich zurechtgebogene NS-Mordparagraf. Er gehört reformiert. Die Reformbestrebungen aus dem Jahr 2014 sind im Sand verlaufen. Die Union war daran schuld.

Der Rechtsstaat hat sich dafür entschieden, lieber neun Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Die Verurteilung eines Unschuldigen ist also von Rechts wegen noch weniger erträglich als der Freispruch eines Schuldigen. Diese strafrechtliche Fundamentalentscheidung wird vom neuen Wiederaufnahmerecht fundamental infrage gestellt – wie gesagt, wenn neue Beweismittel vorliegen. Und so hat es der Bundestag soeben beschlossen. Das klingt erst einmal nach Gerechtigkeit. Ist es nicht gerecht, bei außergewöhnlichem Unrecht die Rechtskraft eines Freispruchs zu durchbrechen? Es lässt sich da sehr emotional argumentieren. Deshalb gibt es viel Sympathie für das neue Gesetz, das die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des freigesprochenen Täters ermöglicht – bei allen Straftaten, die nicht verjähren, bei Mord und Völkermord also.

Wenn die Tür einen Spalt offen ist

Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Das Vorhaben klingt womöglich aufs erste Hören gut, ist es aber nicht. Es verstößt gegen den Fundamentalgrundsatz der Rechtssicherheit. Dieser Rechtsgrundsatz ist ganz eng mit der Menschenwürde verbunden. Dieser Grundsatz ist so wichtig, dass um seinetwillen auch im Einzelfall vielleicht unrichtige Entscheidungen in Kauf genommen werden. Das neue Recht aber macht einen Freispruch bei Kapitaldelikten praktisch wertlos. Künftig heißt die Urteilsformel quasi: Im Namen des Volkes: „Der Angeklagte wird bis auf Weiteres freigesprochen.“ Das ist der Weg zu einem anderen Recht.

Wenn die Tür zu einem anderen Recht jetzt, wenn es um Mord geht, einen Spalt weit aufgemacht wird – dann wird sie erfahrungsgemäß alsbald ganz aufgestoßen werden. Dann gibt es alsbald Freisprüche nur noch unter Vorbehalt auch bei Totschlag, bei Vergewaltigung, bei schwerem Raub, bei schweren Umweltdelikten. Das Wort Rechtssicherheit wäre dann nichts mehr wert. Das Bundesverfassungsgericht wird daher diesen rechtlichen Irrweg ohne schuldhaftes Zögern beenden müssen.

Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns allen die Erholung, die wir nach den vielen Corona-Maßnahmen brauchen.

Ihr

Heribert Prantl,
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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