Vor 175 Jahren zusammengetreten, war das Paulskirchen-Parlament ein Herrenparlament – mit feministischer Begleitung. Am Beginn der Demokratie in Deutschland stand die Forderung nach einem Rollentausch

Von Heribert Prantl

Glockengeläut, Böllerschüsse, ungeheurer Jubel: Der Einzug der Abgeordneten der Nationalversammlung in die Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 1848 war ein triumphales Ereignis. Die Beratungen und Diskussionen der Abgeordneten waren spektakulär, geprägt von revolutionärem Stolz. Die Paulskirche war ein Debattenparlament – ohne Redezeitbeschränkung. Und so spottete Georg Herwegh, der radikalaufständische Dichter und Freischärler, in der Deutschen Londoner Zeitung: „Im Parla – Parla – Parlament / Das Reden nimmt kein End.“

Es fand doch ein End: Die Verfassung, die in der Paulskirche geschrieben wurde, war sensationell. Der Grundrechtekatalog der Paulskirche blieb Vorbild noch für das Grundgesetz von 1949. Festgeschrieben wurden 1848 die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit; entehrende Körperstrafen und die Todesstrafe wurden abgeschafft, die Rechtsgleichheit aller Bürger garantiert, der Adel als Stand aufgehoben.

Glanzlos, geschichtslos, gesichtslos

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird sich zum 175. Jahrestag mühen, die demokratische deutsche Frühgeschichte bei einer Festveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche auferstehen zu lassen. Es wird ihm nur schwer gelingen. Warum? Der Originalort des ersten deutschen Parlaments von 1848 ist durch seinen Nachkriegsumbau von 1948 nicht mehr erkennbar. Dieser Ort, die Frankfurter Paulskirche, ist daher ein erinnerungspolitisch unerlöster Ort. Das Innere der Paulskirche sieht heute so aus, als sollten dort die Vorurteile gegen die Demokratie bestätigt werden: Glanzlos, geschichtslos, ohne Magie. Das soll offenbar auch so bleiben; eine Expertenkommission hat die Rekonstruktion des ersten deutschen Parlamentsbaus abgelehnt.

Seinerzeit bot die Paulskirche nicht nur den gut fünfhundert Abgeordneten Platz, sondern auch, auf der Galerie, mehr als zwölfhundert Zuschauerinnen und Zuhörern. Die brachten, wie ein Zeitgenosse schrieb, „Leben in die Bude: Es wurde aus Leibeskräften applaudiert und gezischt.“

Die Paulskirche war ein Männerparlament. Die Frauen, deren Kampf für Gleichberechtigung damals begann, saßen auf der Galerie – und blieben nicht stumm dort. Sie schlugen den Männern einen Rollentausch vor. In der Oberrheinischen Zeitung wandten sich „die Frauen von Bonn an das teutsche Parlament“ und forderten die Männer auf, „nach Hause zu kommen, ihre Sorgfalt der Kinderstube, der Küche, der Waschküche und dem Keller nur einige Zeit zu widmen, während wir Frauen rascher das bedrohte Vaterland zu einigen und zu rüsten denken“. Die Historikerin Alexandra Bleyer hat den Zeitungsartikel von Anfang Juli 1848 in ihrem Buch über die „Erfolgsgeschichte einer gescheiterten Revolution“ aus dem Archiv gegraben (Bleyers 1848-Buch stellte ich in „Prantls Leseempfehlungen“ meines Newsletters vom 19. März 2023 vor).

Männer in der Rumpelkammer

Die Frauen sahen sich schon damals, 1848, als die besseren Abgeordneten: „Man wirft uns freilich vor, wir wären von dem Geiste zu großer Redseligkeit besessen, wären gar plauderhaftig. Der Unparteiische jedoch, welcher die stenographischen Berichte liest, welcher erfährt, wie stürmisch es in der Paulskirche zugeht, welche Redelust besonders die 75 teutschen Professoren entfalten, dürfte geneigt sein, uns Frauen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, uns geeigneter, uns parlamentarischer zu erachten.“

Und dann folgte noch eine frühe feministische Attacke auf das Männerparlament: „Wir Frauen halten viel vom Fortschritt … wohingegen die Mehrzahl der verehrlichen Parlamentsmitglieder im Gestern, im Vorgestern, in der Rumpelkammer, Gott weiß wo steckt … Wir wenden uns mit Abscheu von dem, was sich überlebt hat.“ So wurde vorbereitet, was dann erst siebzig Jahre später kam: Bei der Wahl zur Nationalversammlung der Weimarer Republik am 19. Januar 1919 durften erstmals Frauen wählen und gewählt werden.

Man mag sich zum Jubiläumstag und zur Jubiläumsfeier am 18. Mai vorstellen, wie Pädagogen mit Schulklassen durch das rekonstruierte Paulskirchenparlament gehen und solche Geschichten erzählen: „Dort, auf Platz Nummer 5 in der ersten Reihe, saß der demokratische Revolutionär Robert Blum, der am 9. November 1848 von der k.-u.-k.-Armee in Wien ermordet wurde.“ „Und dort saß der große Gelehrte und Märchensammler Jacob Grimm, der zu den Gründervätern der deutschen Demokratie zählt.“ Es wäre wunderbar, wenn man das in das erste deutsche Parlament verwandelte Gotteshaus noch wirklich sehen und sinnlich erfahren könnte.

Ein Zeitgenosse hat die Szenerie so beschrieben: „Den Altar überdeckte man mit einem Vorhang und die darüber befindliche Orgel mit dem Gemälde einer Germania. Von wo der Priester den Segen gesprochen hatte, dahin war der Sitz des Präsidenten gepflanzt, die Kanzel in eine Rednertribüne verwandelt. Diese geringen Veränderungen reichten hin, um die geräumigste Kirche Frankfurts, die Paulskirche, in das größte Parlamentshaus Deutschlands umzugestalten … Das runde Schiff wird von einer hohen Säulenreihe eingefaßt, darin nahmen fünfhundert Abgeordnete ihre Plätze. Die Berichterstatter der Zeitungen setzte man zwischen die Säulen, die Zuhörer auf die ungeheure Emporkirche, welche auf der Säulenreihe ruht …“ Nichts, absolut nichts davon erkennt man in der 1948 umgebauten Paulskirche wieder. Man spürt allenfalls den Geist der frühen Nachkriegszeit, der diesen Umbau geprägt hat.

Was sind „Orte der Demokratie“? Es sind dies die Orte, die für das Wesen und das Werden der Demokratie in Deutschland stehen. Die Paulskirche könnte und müsste so ein Ort sein. Sie ist es auch – eigentlich. Aber: Die Paulskirche ist ein historischer Ort, an dem man ihre Historie leider nicht sieht und nicht spürt.

Es ist so, dass die falschen Dinge rekonstruiert und wieder aufgebaut werden: Das Berliner Stadtschloss beispielsweise, das Monument des preußischen Obrigkeitsstaats. Man kann sich also anschauen, von wo aus der preußische König 1848 auf die demokratischen Bürger hat schießen lassen. Wie der Plenarsaal der Nationalversammlung von 1848 ausgeschaut hat, das zeigen nur noch alte Bilder. Die Wiederbelebung dieses authentischen Orts der frühen deutschen Demokratie ist nicht versucht worden. Dafür aber hat die Wiederbelebung des authentischen Orts des preußischen Obrigkeitsstaats geklappt. Welch traurige Symbolik!

Das 175. Jubiläum sollte der festliche Anlass sein für eine gute Entscheidung: Der Paulskirche, dem Zentralort der deutschen Demokratie, soll ihr Gesicht wiedergegeben werden.


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