Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth wird am Montag 88 Jahre alt. Sie hat ihren Christdemokraten den Feminismus und ein Stück Liberalität beizubringen versucht. Aber der Merz-CDU fehlt der feine Geist der alten Dame.
Von Heribert Prant
Als der Philosoph Jürgen Habermas einmal gefragt wurde, was denn von „1968“ geblieben sei, hat er eine Antwort gegeben, die vielleicht die beste ist, die es gibt. Habermas hat, es war 1988, gesagt: „Frau Süssmuth“. Er meinte die Fundamentalliberalisierung der Republik. Er meinte die Frauenemanzipation, er meinte die Ökologiebewegung und die Friedensbewegung, er meinte eine entspießerte Sexualmoral, er meinte die umfassende Demokratisierung der Gesellschaft. Es gehört dies alles zum Erbe von 1968, auch der klare und scharfe Blick auf den Nationalsozialismus. Das alles ist nach wie vor bitter notwendig – aber das ist ganz und gar nicht gesichert, derzeit noch weniger als vor ein paar Jahren.
Demokratie und Aufklärung, Grundrechtsbewusstsein, die Achtung von Minderheiten und der Respekt für Andersdenkende sind, wie sich heute zeigt, nicht zusammen mit dem Grundgesetz vom Himmel gefallen und dann ein für alle Mal da. Demokratie muss man lernen, schützen und leben, immer und immer wieder. Dafür steht Rita Süssmuth, die einst als Professorin für Erziehungswissenschaft auf Initiative von Heiner Geißler Ministerin für Familie, Jugend, Gesundheit und Frauen in der Regierung Kohl wurde; dann war sie zehn Jahre lang Bundestagspräsidentin und hat in dieser Funktion den Umzug des Bundestags von Bonn nach Berlin freundlich und resolut dirigiert.
Ihr ist es zu verdanken, dass das parlamentarische Berlin ein fantastisches Wahrzeichen hat – die gläserne Kuppel des alten Reichstagsgebäudes; diese Kuppel hat sie dem Architekten Norman Foster abgetrotzt, der eigentlich ganz anderes im Sinn gehabt hatte, nämlich eine Art Zeltdach. Am Montag wird Rita Süssmuth 88 Jahre alt.
Die Weisheit im Scheitern
Eine Kämpferin ist sie immer noch: Die Christdemokratin streitet mit Eloquenz und Inbrunst für Quotenregelungen. Es ist dies das letzte Kapitel ihres Lebenskampfs für Frauenrechte, für Emanzipation, für Parität, für Halbe-Halbe auch in den Parlamenten. Sie kämpft gegen einen aggressiven und unverhohlenen Antifeminismus, der die Erfolge der Frauenbewegung verachtet und den Gehalt des Wortes Emanzipation verfälscht, indem er „Emanzen“ lächerlich macht.
Der politische Antifeminismus wird nicht nur von Sexisten wie Donald Trump getragen, sondern auch von Frauen aus dem neuen Rechtsradikalismus; sie verkleiden ihren Rassismus und ihre antimuslimischen Reflexe mit Vorliebe als Verteidigung der Frauen und tun emanzipatorisch. Wenn es darum geht, Emanzipation zu stärken und auszubauen – da wird die 88-Jährige wieder jung, da funkeln ihre Augen, da strafft sich der kleine, etwas zittrige Körper. Dann zitiert sie, leicht abgewandelt, das Motto von Samuel Beckett, das sie sich vor Jahrzehnten zu eigen gemacht hat: „Scheitern, weitermachen, noch mal scheitern, besser scheitern, weitermachen!“ Das ist die Lebensweisheit der Rita Süssmuth.
So hat sie sich gegen Helmut Kohl behauptet, dem sie zu progressiv war; so hat sie sich gegen fast ihre ganze CDU behauptet, als die mit ihr zürnte, weil sie die Leitung der 21-köpfigen Zuwanderungskommission der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder übernahm und zusammen mit den Fachleuten ein kluges Konzept ausarbeitete, das „Zuwanderung gestalten, Integration fördern“ hieß. Damals, das ist 25 Jahre her, wurde sie von der lovely Rita zur lonely Rita ihrer Partei. Das Einwanderungs- und Integrationskonzept, das seinerzeit der Bundesinnenminister Otto Schily auf der Basis der Süssmuth-Vorschläge aufstellte, wurde im Bundesrat von der CDU/CSU brutal ausmanövriert. Aber Süssmuth ließ sich davon nicht irre und kirre machen.
Eine große Vertreterin der Versöhnergeneration
Demokratie ist mehr als eine Abstimmungsprozedur; sie ist für Süssmuth ein Lebensprinzip und eine Wertegemeinschaft. Zur Demokratie gehört das ständige Nachdenken, Mitreden und zivilisierte Streiten darüber, wie Zukunft am besten geht. Das hat Rita Süssmuth immer gut gekonnt, das hat sie gezeigt, als sie ein liberales Abtreibungsrecht propagierte, das hat sie gezeigt, als sie für eine aufgeklärte Drogenpolitik warb, das hat sie gezeigt, als sie in der Anti-Aids-Politik nicht auf seuchenpolizeiliche Drohungen, sondern auf Beratung setzte. In der Corona-Pandemie hat sie von diesen Erfahrungen profitiert: Sie plädierte dafür, nicht die Angst vor dem Gefährlichen zu schüren, sondern die Eigenverantwortung der Menschen zu stärken.
Rita Süssmuth war und ist nicht nur Frauen-, Gesundheits-, Jugend- und Familienpolitikerin; sie ist auch eine kluge und tiefschürfende Außenpolitikerin. Als Bundestagspräsidentin lud sie vor dreißig Jahren, zum fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, den polnischen Außenminister und Holocaust-Überlebenden Władysław Bartoszewski zur Rede im Bundestag ein, weil das Erinnern und die Aussöhnung „mit dem Ende der Nachkriegszeit nicht endet“.
Am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz wurde Rita Süssmuth soeben als einer „der großen Vertreterinnen der Versöhnergeneration“, wie es hieß, der große deutsch-polnische Preis überreicht – von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski. Bei ihrem Auftritt in München war sie schon recht wackelig, stützte sich auf ihre Referentin und auf das Rednerpult; dort stand sie von Krankheit gezeichnet aber so temperamentvoll und aufgekratzt wie eh und je – als eine der späten Mütter des Grundgesetzes; dieser Ehrentitel gebührt ihr. Versöhnerinnen wie sie bräuchte man heute in den Konflikten, die Europa und die Welt zerreißen.
„Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“
Der schärfste Kommentar zur Sicherheitskonferenz stammt von Rita Süssmuth, von ihr stammt die klarste und die treffendste Kritik am wirren und irren Auftritt des US-Vizepräsidenten James David Vance: „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“, hat sie geschrieben. Zugegeben: Es ist dies kein aktueller Kommentar, der Satz ist schon fünf Jahre alt. Es handelt sich um den Titel eines Buches von ihr aus dem Jahr 2020 mit dem Untertitel: „Ein Brief an die Enkel“. Aber dieser Süssmuth-Satz „Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen“ passt wahnsinnig gut zu den Dummdreistigkeiten, mit denen der US-Vizepräsident in München das Publikum entsetzt hat. Die Art und Weise, wie Vance sich in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und der EU eingemischt hat, seine Wahlwerbung für die AfD und für den Rechtsextremismus in Europa, seine hanebüchenen Bemerkungen über die Meinungsfreiheit hat der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz als „fast schon übergriffig“ bezeichnet. Man darf das „fast“ weglassen.
Die Rede von Vance war eine, die nur ein einzig Gutes hatte: Sie hat die deutsche und die europäische Politik hoffentlich final aufgerüttelt. Überlasst die Welt nicht den Wahnsinnigen. Es wäre gut gewesen, wenn Europa nicht auf einen Donald Trump gewartet hätte, um im Ukraine-Krieg mit Verhandlungen zu beginnen. Vor knapp zwei Jahren hat der Historiker Peter Brandt in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Manchmal muss man verhandeln, um überhaupt zu Verhandlungen zu finden!“ Es wäre gut gewesen, man hätte auf Brandt oder auf den alten Philosophen Jürgen Habermas gehört, der seinerzeit, auch in der SZ, gefordert hat, der Westen möge energischer auf Verhandlungen drängen. Habermas beklagte damals einen bellizistischen Tenor der geballten öffentlichen Meinung.
Parallel zur Münchner Sicherheitskonferenz fand die 23. Internationale Münchner Friedenskonferenz statt. Ich durfte dort über das Friedensgebot des Grundgesetzes reden: Es ist bisher versäumt worden, dieses Friedensgebot auszuarbeiten, zu substanziieren, zu spezifizieren und zu konkretisieren, so wie das mit dem Rechtsstaatsgebot und dem Sozialstaatsgebot geschehen ist. Das rächte und rächt sich in der öffentlichen Diskussion über den Ukrainekrieg, weil sie keinen Halt in der Verfassung hatte und hat.
Sowohl für die Münchner Sicherheitskonferenz als auch für die Münchner Friedenskonferenz und für die bevorstehende Ukraine-Verhandlungszeit gilt der kluge Satz des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt: „Der Frieden ist nicht alles. Aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Es fragt sich freilich, was ein Trump-Frieden für ein Frieden ist, wenn er als Deal über die Köpfe der Ukrainer hinweg geschlossen wird.