Guten Tag,

vor Jahren habe ich meine Zettelwirtschaft beendet. Ich habe es mir angewöhnt, Notizen für dies und das in ein Leerbuch zu schreiben, also in ein Buch mit leeren Seiten – die To-do-Listen, die Arbeitsprogramme, die Gedanken und Hinweise für Kommentare und Kolumnen. Ein Leerbuch ist ein Lehrbuch für mich selbst.

Mehr Latein wagen

In diesem Buch habe ich in der vergangenen Woche eine Nachricht aus Großbritannien notiert: Der Bildungsminister dort will das Fach Latein an den staatlichen Schulen ausbauen. Bildungsminister Gavin Williamson sagte der Zeitung Daily Telegraph: „Wir wissen, dass Latein den Ruf hat, ein elitäres Fach zu sein, das nur wenigen Privilegierten vorbehalten ist.“ Und er erklärte sein Vorhaben: „Das Fach kann jungen Menschen so viele Vorteile bringen, also möchte ich diese Kluft schließen.“ An vierzig staatlichen Schulen vor allem in armen Vierteln soll es ein Latein-Pilotprogramm geben. Premierminister Boris Johnson konnte sich dazu eine seiner koketten Eitelkeiten nicht verkneifen: Er habe, so erzählte er, in der Schule „fast nichts anderes gelernt als Latein und Griechisch. Und jetzt regiere ich das Land“.

Das wunderbare Textarchiv der Süddeutschen Zeitung hat mir aktuelle Zahlen zum Lateinunterricht an deutschen Schulen geliefert – „sechs Prozent aller deutschen Schülerinnen und Schüler lernen Latein“, notierte ich im Leerbuch. Und ich hielt dort auch den Titel eines Buches fest, das ein Ordinarius der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, der Altphilologe Wilfried Stroh, vor 15 Jahren geschrieben hat: „Latein ist tot, es lebe Latein!“ Sein Untertitel: „Kleine Geschichte einer großen Sprache“.

Eine Liebeserklärung

Der Kollege Thomas Ribi, Redaktor im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, hat diese Geschichte gepriesen und dem Lateinischen eine Liebeserklärung gemacht: Er schrieb im NZZ-Feuilleton, Latein sei nicht einfach nur eine Sprache; sie sei „Frischluft für den Geist“ und „ein Spiegel, in dem sich bündelt, was die Kultur Europas ausmacht“. Auch das habe ich notiert. Und als ich das Leerbuch zuschlug, fiel mein Blick auf den Satz, der da auf den Umschlag geprägt ist: „Rem tene, verba sequentur“. Das ist ein Satz von Cato, auf Deutsch: Beherrsche die Sache, dann werden die Worte folgen.

Nota bene

Die neuen Leerbücher mit alten Spruchweisheiten zu betiteln, hat sich eine befreundete Lateinlehrerin ausgedacht – und mir schön geprägte Exemplare zum Geburtstag geschenkt. Etwa alle zwei Monate ist so ein Leerbuch voll. Ich habe aus britischem Anlass die vollgeschriebenen und die noch leeren Bücher zur Hand genommen und mir dabei überlegt, was die aufgeprägten Sentenzen auf den Umschlägen mit meiner Arbeit zu tun haben: „nota bene“ steht da, also „wohlgemerkt“; und „esse quam videri“, also „mehr Sein als Schein“, und, unvermeidlich, „alea iacta est“, das Wort, das Caesar gesagt haben soll, als er den Rubikon überschritt. Auch „prudentia potentia“, also „Wissen ist Macht“ und „dies diem docet“, was bedeutet, dass ein Tag den anderen lehrt. Der bezeichnendste Titel ist wohl „Vademecum“. So heißt zwar heute auch ein Mundwasser; das Wort war aber lange gebräuchlich für ein handliches Buch, das einen in allen Lebenslagen nützlich begleitet: „Geh mit mir“. Ich habe es immer bei mir.

Geh mit mir

Geh mit mir: Die kleinen Sprüche gehören zu dem, was vom Lateinunterricht ganz gewiss übrig bleibt. Diese Spruchweisheiten sind die Sprachbrösel der Kultur. Wenn man Jura studiert, sammelt man viele weitere solcher Sprachbrösel ein. „Dolo facit, qui petit, quod statim redditurus est“. Der Satz stammt von dem römischen Juristen Julius Paulus, der Ende des zweiten und Anfang des dritten Jahrhunderts nach Christus lebte. Er steht in den Digesten, der berühmten Rechtssammlung des oströmischen Kaisers Justinian und bedeutet, dass arglistig handelt, wer etwas verlangt, was er augenblicklich wieder zurückgeben muss. „Exceptio doli“, nennen das die Spezialisten, also die „Einrede der Arglist“: Niemand soll erfolgreich eine Leistung einklagen können, die er nach Erhalt sogleich zurückgeben müsste, weil dem Schuldner ein entsprechender Gegenanspruch zusteht.

Eine juristische Klausur kann man auch lösen, ohne so einen lateinischen Satz zu zitieren; aber ein wenig Eindruck machen kann man damit schon. Lateinische Sprüche begleiten das Studium „ab ovo“ – vom Ei, also von Anfang an. Man lernt, was „culpa in contrahendo“ ist und welche Folgen dieses „Verschulden bei den Vertragsverhandlungen“ hat; man lernt, dass auch die andere Seite gehört werden soll: „Et audiatur altera pars“. Was eine „brevi manu traditio“ ist, lernt man erst, wenn man sich im Sachenrecht schon einigermaßen auskennt und hoffentlich, was im Studium heute als Luxus gilt, auch ein wenig Rechtsgeschichte studiert hat.

Das Wunder des römischen Rechts

Die Römer waren die besten Juristen, die die Welt je gesehen hat. Das römische Recht hat, weltweit, zwei Jahrtausende geprägt. Sein hoher Abstraktionsgrad und sein Verzicht auf religiöse Legitimation hat dazu geführt, dass ganz verschiedene Gesellschafts- und Wirtschaftsformen damit arbeiten konnten und können. Das BGB, das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch, ist juristische Algebra auf der Basis des römischen Rechts. Und viele lateinische Begriffe sind so etwas wie dessen Fußabdrücke im Alltag: pro bono, pro domo, pro forma, pro futuro.

Lernen lernen

Aber die bloße Fähigkeit zum gehobenen Wortgeklingel ist es nicht, was das Lateinlernen lohnt. Wer Latein lernt, der lernt nicht einfach eine Sprache, die angeblich eine tote Sprache ist, weil sie niemand mehr spricht. Er lernt nicht nur eine ziselierte Grammatik und eine sinnstiftende, präzise Ausdrucksweise. Man lernt, Probleme zu lösen: Erst einmal sitzt fast jeder vor lateinischen Sätzen wie der Ochs vor dem Berg. Aber dann lernt man, wen man einen guten Lehrer, eine gute Lehrerin hat, wie man den Berg bezwingt. Man lernt, unverständliche Sätze zu entschlüsseln – und dann rollt man sie auf. Man findet den Schlüssel zum Satz, man findet das Verb, das oft erst sehr spät im Satz steht. Sätze knacken und dann in der eigenen Sprache treffend wiedergeben– das ist eine gute Schule, um später, als Jurist, Fälle zu knacken. Und Probleme zu knacken gibt es in jedem Beruf.

Mit Latein kann man also, den Satz habe ich mir ins Leerbuch notiert, das Lernen lernen. Vielleicht stimmt es ja auch, dass sich andere Sprachen, wenn man Latein kann, leichter lernen lassen. Altphilologen behaupten das. Aber: Um Latein zu lernen, braucht es kein solches „Alibi“. Und dass Lateinlernen auch eine Gaudi ist: das weiß Jeder, der das „Leben des Brian“ gesehen hat.

Quod erat demonstrandum. Ich wünsche Ihnen gute Augusttage, Erholung „uno contextu“ – also ohne Unterbrechung durch schlechte Nachrichten.

Ihr

Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung


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