Religion soll Frieden stiften, nicht Gewalt säen – in der Ukraine und im Nahen Osten. Eine Hoffnung wider den Augenschein.

Von Heribert Prantl

Religiöser Terror ist nicht Alleinstellungsmerkmal von Islam und Dschihadisten; Terror und Gewalt sind bis vor Kurzem auch Spezialitäten des Christentums gewesen. Die Gewalttat im Namen Jesu ist nicht einfach nur die Akne des Christentums, die sich mittlerweile ausgewachsen hat: Das beweisen die Rechtsextremisten, die das christliche Abendland verteidigen wollen; das beweist der Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, der seine Seelsorge als Schmiermittel für den Krieg Wladimir Putins begreift.

Religion so zu missbrauchen ist eine Todsünde, ein Kriegsverbrechen. Aber dieser Missbrauch hat eine lange Geschichte. „Gott mit uns!“ stand Jahrhunderte hindurch auf den Koppelschlössern, den Dolchgriffen und den Standarten der Kriegsführer und Soldaten. „Allahu Akbar“, also „Gott ist am größten“, rufen muslimische Terroristen oder solche, die dafür gehalten werden wollen, bevor sie sich selbst und andere töten.

Die Bibel ist biegsam wie Wachs

Es ist ein Kreuz auch mit der christlichen Religion: Christen haben Juden massakriert, Christen haben Hexen verbrannt, Christen haben sich gegenseitig gemetzelt im Dreißigjährigen Krieg. Christen haben freudig den Ersten Weltkrieg als Walten Gottes in der Geschichte begrüßt; und sie haben sich in Hitlers Dienst gestellt und den Vernichtungskrieg im Osten geistlich unterstützt. Das alles nicht, weil Ungläubige sie dazu gezwungen hätten, sondern in voller Überzeugung: sie konnten das alles an der Heiligen Schrift belegen.

Wie das funktionieren kann, hat Georg Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit feiner Ironie erklärt: „Man hat so, kann man sagen, aus der Bibel eine wächserne Nase gemacht: dieser findet dies, jener jenes darin; ein Festes zeigt sich gleich als unfertig, in dem es betrachtet wird vom subjektiven Geiste.“ Kurz gesagt: Die Bibel ist biegsam wie Wachs, man kann sie nach Belieben in alle Richtungen drehen. Wenn man sucht, findet man immer den passenden Bibelvers, der die eigene Meinung, den eigenen Zweck und die eigenen Mittel heiligt.

Und wenn man die Texte aus dem Kontext reißt, kriegt man es immer hin, ihren Sinn so zu verdrehen, dass sie den eigenen Zielen dienen können. Der Pazifist findet den Satz: Steck dein Schwert wieder an seinen Ort. Denn wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.

Wenn man die wächserne Nase der Bibel umdreht, findet man einen Satz, der nach dem glatten Gegenteil klingt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und schon hat der Bellizist die sakrale Begründung zum Dreinschlagen, die er braucht. Das führte jedenfalls dazu, dass das Gebot „Du sollst nicht töten“ im Krieg außer Kraft gesetzt war – zumal an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs, wo es ja galt, die Welt vom Antichrist, vom Bolschewismus zu befreien.

Imagine there’s no Heaven

Angesichts des Missbrauchs von Religion ist John Lennons Song aus dem Jahr 1971 zur Friedenshymne schlechthin avanciert: „Imagine there’s no Heaven / It’s easy if you try / No hell below us / Above only sky.“ Die Botschaft des Liedes ist: Wenn die Vorstellung von Himmel und Hölle, wenn die Religion sich erledigt, also niemand mehr etwas hat, wofür sich zu töten und zu sterben lohnt – dann, ja dann, werden alle Menschen in Frieden leben.

Ob es sich tatsächlich friedlicher lebt in einer Welt ohne die Utopien von einer anderen, besseren Welt, genannt Heaven? Man sollte bei der Kritik einer vermeintlichen Illusion nicht einer anderen Täuschung aufsitzen. Die Vorstellung vom Segen, den das Ende der Religion bringt, ist ebenfalls Illusion; der Weg zum Frieden geht nicht über die Bekämpfung von Religion. Klüger ist es, beides zu verstehen: das Gewaltpotenzial und das Friedenspotenzial der Religion. Das Gewaltpotenzial gilt es zu zähmen, das Friedenspotenzial gilt es zu realisieren.

Religion muss Lehrmeisterin für den Frieden sein; das ist der Seinsgrund von Religion. Es gibt keinen inneren Frieden ohne äußeren Frieden. Und es gibt keinen äußeren Frieden ohne inneren Frieden. Das sagt sich leicht. Aber diese Erkenntnis muss gelehrt und gelebt und geglaubt werden. Es ist dies ein Glauben für die religiösen und die nichtreligiösen Menschen; er kann sich auf einen Gott beziehen, er kann auch ohne ihn auskommen, er kann sich sogar gegen ihn richten.

Wie immer: Frieden stiften – das geht nicht ohne Glauben. Frieden braucht nämlich das Vertrauen in die Möglichkeit im Unmöglichen. Frieden stiften: Das ist die Hoffnung gegen den Augenschein und das Wissen von der Kraft des Wortes. Diese Kraft gilt es jetzt einzusetzen – in der Ukraine und im Nahen Osten.


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