Die Lehren aus dem Corona-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gegen die bayerische Staatsregierung: Auch die Not kennt ein Gebot. Es ist das Gebot der Verhältnismäßigkeit.
Von Heribert Prantl
Der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist kein Wischiwaschi-Satz. Er ist ein Satz mit Substanz, er ist ein Kernsatz des Rechts. Und „Maß halten“ ist kein Wort aus dem Bierzelt, sondern ein Wort, dass die Grundrechte vor maßlosen Eingriffen schützen soll. In der Corona-Krise hat das nicht funktioniert. Der Staat hat in einer Weise in das Leben der Menschen eingegriffen, die bis dahin unvorstellbar war.
Zu den Unvorstellbarkeiten gehörten die Ausgangs- und Mobilitätssperren, die peniblen und strikten Kontaktverbote, wie sie Bayern damals, in der ersten Corona-Welle im Jahr 2020, am radikalsten angeordnet hat. Die Bürgerinnen und Bürger durften ihre Wohnungen und Häuser nicht oder nur noch ganz ausnahmsweise verlassen.
Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat die Bürgereinsperrverordnung der bayerischen Staatsregierung vom 31. März 2020, im Amtsdeutsch „Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ genannt, soeben für unverhältnismäßig erklärt. Das Urteil kommt sehr spät, über zweieinhalb Jahre nach ihrem Erlass, es kommt viel zu spät; es hilft den Millionen Menschen nicht mehr, die damals wochenlang ihre Wohnungen und Häuser nicht mehr verlassen durften; diese Einsperrverordnung ist ja nicht mehr in Kraft.
Aber wichtig ist das Urteil trotzdem – weil es die Politik davor warnt, es in Zeiten der Not zu weit zu treiben. Und: Das Urteil ist eine deutliche Warnung davor, zur Vorbeugung noch härter zuzugreifen als zur Strafe. Das spielt eine Rolle für den Umgang mit den Klimaprotestierern. Man kann sie nicht – wie in Bayern – wochenlang einsperren, schon bevor sie eine Straftat begangen haben.
Ein schwerer Grundrechtseingriff
Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, hat sich in der ersten Corona-Welle von der Stimmung treiben lassen. Aber Stimmungen sind kein Fundament für Freiheitsentzug. Das Fundament ist das Recht. Es darf mit Verweis auf Notstand und Katastrophe nicht weggeschoben werden. Es stimmt nicht, dass Not kein Gebot kennt. Auch die Not kennt ein Gebot. Das Gebot der Not ist die Verhältnismäßigkeit.
Darauf hat jetzt das oberste deutsche Verwaltungsgericht eindringlich hingewiesen: „Das ganztägige und damit auch während der Tagstunden geltende Verbot, die eigene Wohnung zum Verweilen im Freien zur verlassen, war ein schwerer Eingriff in die Grundrechte.“
Der Grundsatz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel war noch nie so wichtig wie in der Corona-Krise. Aber er wurde in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so wenig geachtet. Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung. So lernen es die Juristen schon im Anfängerseminar.
In der Corona-Zeit wackelte und bröckelte dieser Satz; er galt nichts mehr. Selbst die seinerzeit heftig umstrittenen Sicherheitsgesetze der RAF-Zeit und die Sicherheitspakete, die nach 9/11, in der Zeit des islamistischen Terrorismus, gepackt wurden, waren nicht so grundstürzend wie die Verwaltungsverfügungen, mit denen in der Corona-Zeit die als Gesundheitspolizei handelnden Verwaltungsbehörden in die Grundrechte eingriffen.
Aber das heutige Denken, wonach zur Vorbeugung noch härter zugegriffen werden darf als zur Strafe, nahm in der RAF- und der Al-Qaida-Zeit seinen Anfang. Das hat bis heute Auswirkungen auf das gesamte Recht. Das zeigt sich auch darin, dass Klimaaktivisten (wie in Bayern) in Vorbeugehaft genommen werden. Auf heftigen öffentlichen Protest hin (in den auch Kritiker der Klebeaktionen eingestimmt hatten) wurden die in Stadelheim inhaftierten Aktivisten soeben wieder entlassen. Wochenlange Präventivhaft ist Haft ohne Maß. Sie verhöhnt das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
Das Kontaktsperregesetz 1977
Das erste Kontaktsperregesetz stammt aus dem Jahr 1977. Es wurde vor 45 Jahren, im sogenannten Deutschen Herbst beschlossen, aus Anlass der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Über die eingesperrten Terroristen wurde eine totale Kontaktsperre verhängt. Das Gesetz, in rasender Eile beschlossen, unterband – für 72 Häftlinge – jeglichen Kontakt mit der Außenwelt. Es verbot jedwede Verbindung der Gefangenen untereinander, aber auch jeden Kontakt mit dem Verteidiger.
Die Kriminalpolizei, die Bundesanwaltschaft und die Politik waren davon überzeugt, dass diese völlige Isolierung der Häftlinge neue Verbrechen verhindern könnte. Das war, wie sich zeigte, ein folgenschwerer Irrtum. Das Kontaktsperregesetz von 1977 war ein erster Höhepunkt eines ganzen Bataillons von Gesetzen zur Bekämpfung des Terrorismus.
Ein Jahr später, im nächsten Anti-Terror-Gesetz, wurden die Trennscheiben im Gespräch zwischen Verteidiger und Beschuldigten eingeführt, die Gründe für den Ausschluss eines Verteidigers erweitert, die Durchsuchung von Wohnungen erleichtert, Kontrollstellen und Personenidentifizierung eingerichtet und ein weiteres Jahr darauf die Beweisverfahren im Strafprozess vereinfacht. Die Zwangsmittel der Strafverfolgungsbehörden wurden rasch ausgebaut, und zwar so, dass sie mehr und mehr auch völlig Unschuldige miteinbezogen.
Der Zugriff auf Unbeteiligte wurde im Zuge dieser Ermittlungsmaßnahmen (Telefonüberwachung, Raster- und Schleppnetzfahndung, Observation) die Regel. Was als Quasi-Notstandsrecht zur Bekämpfung der RAF begonnen hatte, wurde nie mehr gründlich evaluiert und im Lauf der Zeit strafrechtlicher Standard. Und dann hielten solche Maßnahmen der Repression ihren Einzug auch bei der Prävention.
So weit wie die Kontaktsperren in der RAF-Zeit gingen die Corona-Kontakt-und-Ausgangssperren nicht. Aber sie griffen tief ein in die Grundrechte nicht von Straftätern, sondern von vielen Millionen unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern – nicht zur Strafe, sondern zum Schutz der öffentlichen Gesundheit. Das öffentliche Leben wurde von Verwaltungsbehörden geschlossen, das private Leben auf drastische Weise reglementiert (zum Beispiel durch die 24/7-Ausgangssperren in Bayern); wirtschaftliche Existenzen wurden vernichtet.
Bei den RAF-Terroristen endeten die Kontaktsperren seinerzeit nach ein paar Wochen: Sie wurden drei Tage nach den Selbstmorden von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe vom damaligen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel aufgehoben. Das Kontaktsperregesetz von 1977 hatte im Übrigen vorgeschrieben, dass diese Kontaktsperren vom zuständigen Oberlandesgericht beziehungsweise vom Bundesgerichtshof innerhalb von zwei Wochen bestätigt werden müssen – sonst verloren sie ihre Wirkung. In den Jahren von 2020 an, bei den Corona-Verordnungen, die Kontakt-, Ausgangs- und Besuchsverbote anordneten, war so ein Automatismus nicht vorgesehen.
Verbotene Experimente mit Freiheitsrechten
Es geht bei alledem um Verhältnismäßigkeit. Es geht um die Verhältnismäßigkeit, wenn Klimaaktivsten in Vorbeugehaft genommen werden, noch bevor sie etwas getan haben. Verhältnismäßigkeitsgebot ist das Gebot, das auch in der Not gilt und gelten muss. Ausgangssperren, Besuchsverbote, Mobilitätsperren, Beherbergungsverbote, Kontaktsperren – dergleichen darf die Exekutive nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln, um auszuprobieren, ob das vielleicht etwas hilft.
Die Freiheitsrechte sind zu wichtig, um mit ihnen Experimente zu machen.